Die Geschichte des "Einen" (Mk 10,17ff)
Diese pointenreiche, aber vergleichsweise wenig bekannte Erzählung zeigt nur zwei Akteure, Jesus und den Einen. Trotz seiner Namenlosigkeit ist der Eine bei Mk eine wichtige Erzählfigur. Erst nach und nach ist zu erfahren, was ihn eigentlich auszeichnet. Unklar bleibt, warum Jesus ihn liebt, wie es rätselhaft im Zentrum der Geschichte heißt.
Zunächst ist er jemand, der nur hinzuläuft (10,17). Er kommt Jesus also auf dem Weg entgegen, vielleicht aus größerer Entfernung. Am Ende geht er traurig weg; die Berufung in die Nachfolge ist offenkundig an seiner Besitzgier gescheitert.
Dies und noch weitere Informationen machen es möglich, ihn als Kontrastfigur zum blinden Bettler Bartimaios (10,46 ff) zu deuten und damit auch in Entsprechung zum Petros. (Vgl. https://www.skandaljuenger.de/post/die-geschichte-des-bartimaios-mk-10-46ff).
Das zeigen ebenso die anderen Oppositionen: seine Namenlosigkeit etwa, die explizite Nachfolge-Aufforderung Jesu (10,21; vgl. 1,17) oder das Kriterium eines Reichtums, der in sozial-verträglicher Weise angehäuft werden kann, doch auch dann für ein Ewiges Leben wertlos ist.
Nach dem Scheitern der Berufung wird die Reichtums-Kritik gegenüber den Schülern, insbesondere gegenüber Petros, weit ausgeführt. Als Aufhänger dient dabei der Begriff der Schätze (10,22; κτήματα), der unmittelbar danach in einem Wortspiel wieder aufgenommen wird mit dem entsprechenden der Güter (10,23; χρήματα).
Die Geschichte zeigt zunächst den Einen, der Jesus begegnet und ihn anspricht, wobei Jesus sich seinerseits auf den Einen beruft, auf Gott, und schließlich feststellt, dass dem Einen Eines fehle, trotz seines Vermögens.
Diese paradoxe Reduktion mag als dogmatische Antwort auf die Frage nach der Einheit Gottes gedeutet werden. Gleichwohl zeigt sie vielmehr das Modell einer Nachfolge, die ohne große Worte und ausschweifende Reden auskommt und so den Wert sprachlicher Armut erkennen lässt.
Dementsprechend ist auch die Exposition äußerst knapp, wenn der Eine zu Jesus hinzuläuft, der aber seinerseits auf den Weg herausgeht (10,17). Der als Ortsangabe undefinierte Weg fungiert auf der Handlungsebene als Treffpunkt; als Bild steht er auch für das Verlassen jüdischer Traditionen, konkret der judäochristlichen Gesetzes-Observanz.
Der erst am Ende genannte Reichtum des Einen ist zu Beginn kein Thema. Er hindert ihn auch nicht, vor Jesus auf die Knie zu fallen, ihn als Guter Lehrer anzusprechen und ohne Umschweife die Frage nach einem immerwährenden Leben zu stellen. Die dürfte urchristlichem Sprachgebrauch entsprechend als Ewiges Leben, also eschatologisch zu verstehen sein.
Die Huldigungs-Geste der sog. Proskynese wird sonst nur bei Kranken oder Bittenden erzählt, nicht aber bei dahergelaufenen Gesprächspartnern, die in Jesus nur einen Lehrer sehen. Sie ist typisch für die Ironie des Mk, zumal der Eine nur nach einem Verhalten fragt, mit dem er dieses Leben ererben könne.
Doch mit dem Gedanken, es sei ein vererbbarer Besitz, beantwortet der Eine seine Frage selbst. Denn er muss lediglich Erbe sein (vgl. Röm 4,13.14); er kann also nichts weiter dafür tun.
Das ist die eine Seite der Pointe: Kaufen kann er sich jenes Leben nicht. Was er dennoch tun kann, bietet Jesus ihm an (10,21). Der als Ausgleich für den geforderten Besitzverzicht angebotene Vorrat im Himmel ist eine Anspielung auf die Tora – mit einer klaren Macht-Verheißung, einem Lohn für die Gesetzes-Observanz:
Wenn du wahrhaftig auf die Stimme des Herrn, deines Gottes hörst, um alle seine Gebote, die ich dir heute gebiete, zu halten und zu tun, dann wird der Herr, dein Gott, dich hoch über alle Völkerschaften der Erde setzen […]. Der Herr möge dir seinen guten Vorrat, den Himmel, öffnen […], und du wirst über zahlreiche Völker herrschen, über dich aber werden sie nicht herrschen (Dtn 28,1.12 LXX).
Die andere Seite der Pointe: Auch ein Königtum kann nur erben, wer Erbe des Königs ist. Das Königtum Gottes aber kann allein Jesus erben, der besitzlose Knecht, der als Sohn Gottes erbberechtigt ist. Ob er tatsächlich auch ein guter Lehrer ist, bleibt zunächst offen.
Wie so oft bei Mk reagiert Jesus nicht unmittelbar auf die Ausgangs-Frage, zumal der Eine sich ohnehin selbst die Antwort gibt. Stattdessen widerspricht er dem Prädikat der Anrede, dem des guten oder tüchtigen Lehrers.
Damit stellt der Jesus des Mk – auch das ist Ironie – nicht primär den Lehrer in Frage, sondern das philosophisch geprägte Attribut des Guten, um damit zugleich in die Rolle des Lehrers zu schlüpfen. Das Attribut steht in deutlicher Opposition zu dem des Chrestus, mit dem Mk seinen Jesus eingeführt hatte (1,1; vgl. https://www.skandaljuenger.de/post/aus-dem-kleinen-abc-zum-markus-evangelium-c-christus).
Doch als Lehrer bleibt Jesus letztlich erfolglos. Denn am Ende geht der Eine betrübt weg, enttäuscht über die radikale, für ihn wohl nicht einlösbare Forderung zum Besitzverzicht (10,22). Erstaunlich an der Geschichte ist, dass er trotzdem die Liebe Jesu gewinnt, die allein durch dessen Blick vorbereitet wird (10,21). Weitere Erklärungen dazu fehlen.
Noch einmal: Ausgerechnet ihm, dem anonymen Akteur, der in Entsprechung zu Petros steht und der Berufung Jesu nicht Folge leistet, wird diese Liebe zuteil, ungeachtet auch seines besonderen Reichtums. Die Geschichte zielt damit auf die Frage, warum ausgerechnet er die so einzigartige Wertschätzung gewinnen kann.
Zunächst liegt es nahe, den Grund dafür in den Geboten zu suchen, die Jesus aufzählt und die von dem Einen auch alle beachtet wurden, angeblich von Kindheit an (10,20). Der sehr unterschiedlich überlieferte Gebots-Katalog passt zu ihm als einem Vermögenden; vom Dekalog aber weicht er deutlich ab. Damit kann er unmöglich an einen observanten Juden gerichtet sein.
Denkbar ist allerdings, dass die Auswahl von Geboten, die auf die soziale Verantwortung von Reichtum zielt, nicht nur dem Einen gilt, sondern darüber hinaus allen Vermögenden, mittelbar auch dem Petros. Denn der wird bald danach und gegen die von Mk erzählten Tatsachen behaupten, alles verlassen zu haben und Jesus nachgefolgt zu sein (10,28).
Insbesondere fällt im Katalog das Verbot eines gesetzeswidrigen Aneignens auf, eines Vorenthaltens, das mit dem Dekalog unvereinbar ist (10,19). Dahinter steht die Kritik an einem Reichtum, der durch das Vorenthalten von Löhnen angehäuft wird (vgl. Mal 3,5).
Das Lohn-Thema ist bezeichnend für Jakobos und Johannes; mit ihrer Frage nach den Ehrenplätzen links und rechts von Jesus wird auch das danach wieder aufgenommen (10,41ff; vgl. https://www.skandaljuenger.de/post/übersetzungsfehler-in-der-bibel-fehler-der-vulgata-4-1).
Infolge der Umdeutung durch Matthäus (Mt 19,16ff) wurde der Katalog des Mk schon in frühen Handschriften an den des Dekalogs angeglichen. So wurde das im Kontext unsinnige Tötungsverbot eingefügt und an die erste Stelle gesetzt, noch vor dem Scheidungsverbot, das bei Mk zuvor ausführlich thematisiert wird (10,2ff).
Eine weitere Angleichung an den Dekalog wurde dadurch vorgenommen, dass das ursprünglich an zweiter Stelle stehende Gebot Du sollst nicht huren! ausfiel bzw. durch das Tötungsverbot ersetzt wurde. Die eigentümliche Auswahl der Gebote, ihre veränderte Reihenfolge sowie die komplizierte Überlieferung wird an anderer Stelle zu klären sein.
Was also ist der Anlass für die erstaunliche und im Kontext nicht begründete Liebe Jesu?
Die Lösung des Rätsels ermöglicht der Begriff der Kindschaft (10,20) Das entsprechende Thema wird unmittelbar zuvor eingeführt mit der Aufforderung Jesu, (Heiden)-Kinder (d.h. Völkerchristen) zu ihm kommen zu lassen, gegen den Willen der ablehnenden Schüler (vgl. https://www.skandaljuenger.de/post/aus-dem-kleinen-abc-zum-markus-evangelium-k-kinder).
Durch diesen entscheidenden Kindheits-Begriff (νεότης) macht Mk deutlich, dass der Eine sich nicht pauschal den observanten Judäochristen zuordnen lässt, noch den aus jüdischer Perspektive gesetzlos lebenden Völkerchristen. Stattdessen hat er andere Voraussetzungen, unabhängig von den beiden Konflikt-Parteien. Darin liegt die Liebe Jesu begründet, die zentrale Pointe der Geschichte.
Den Ausschlag für diese Liebe gibt also nicht etwa die judäochristliche Tora-Observanz, noch die philosophisch geprägte Suche nach dem Guten, geschweige denn der mit ihr verbundene griechische Lehrer-Titel, sondern die Voraussetzung von Neutralität im Konflikt.
In seiner vergeblichen Lehre macht Jesus den Einen darauf aufmerksam, dass er das Ewige Leben nur bekommen kann, indem er ihm nachfolgt. Das Motiv des erfolglosen Lehrers ist typisch für die Ironie des Mk; der auf den Lehrer Jesus abhebende Matthäus beseitigt sie, indem er die Geschichte zur einer Lehrstunde über die Gebote als dem Weg zur Vollkommenheit umdeutet (Mt 16,21).
In der Geschichte des Einen bleiben die Schüler allenfalls im Hintergrund. Erst danach spricht Jesus sie als (judäochristliche) Kinder an und macht sie auf die Schwierigkeit aufmerksam, in das Königtum Gottes hineinzukommen. Dass er selbst derjenige ist, der darüber entscheidet, bemerken sie nicht.
Der Jesus des Mk ersetzt also das Theologumenon des Ewigen Lebens durch das des Königtums Gottes. Zu diesem wesentlichen Ausdruck folgt ein eigener Beitrag demnächst.
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