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Die Geschichte des sog. Liebesgebotes (Mk 12,28-34)

Aktualisiert: 4. Dez.

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Als eine Geschichte gegenseitigen Verstehens wird der Dialog Jesu mit einem der Schreiber angesehen. In der Fachliteratur ist sogar von einem Konsens-Gespräch die Rede, das sich insofern von den vorausgehenden Streit-Gesprächen auffallend unterscheide.


Dabei ist der komplexe Dialog ein kommunikatives Desaster – trotz oder wegen der Anknüpfungspunkte und intertextuellen Bezüge, die nebenbei auf das Ideal des Märtyrers hinweisen. Er ist ein Musterbeispiel für die abgründige Ironie und damit zugleich für die notorisch unterschätzte Erzählkunst des Mk.


Vordergründig geht es um die Frage nach dem ersten Gebot, die Jesus mit dem sog. Doppelgebot der Liebe beantwortet. Traditionell wird diese Antwort zu den Kernstücken seiner Lehre gezählt. Solche Deutungen, die in der Geschichte einen historischen Kern sehen möchten, sind noch weithin üblich; der Text des Mk gibt sie nicht her (vgl. https://www.skandaljuenger.de/post/aus-dem-kleinen-abc-zum-markusevangelium-l-lehre).


Jedenfalls dient die Ausgangs-Frage nach dem ersten Auftrag von allen als Aufhänger eines abgründigen Zwiegesprächs, das zunächst keine anderen Zuhörer hat als den auktorialen Erzähler bzw. dessen aufmerksame Leser:innen.


Mk siedelt ist es im Heiligtum an, dort also, wo er seinen Jesus auf Führungs-Konflikte und theologische Fragen seiner eigenen Zeit antworten lässt. Insofern ist der historische Ort der Geschichte irrelevant und nicht einfach mit dem Jerusalemer Tempel zu identifizieren. Vom Heiligtum spricht Mk ohnehin nur im Vorfeld und im Nachhinein (11,27; 12,35), in der mutmaßlichen Absicht, die Tora durch das autoritative Wort Jesu zu revidieren oder zu relativieren.


Aus demselben Grund sollte auch nicht vorschnell von einem Doppel- bzw. Tripel-Gebot Jesu die Rede sein, zumal die Geschichte von vorneherein nicht auf die Geltung der Tora angelegt ist, geschweige denn auf deren höchstes Gebot. Diese Umdeutung nimmt Matthäus vor – mit der für ihn typischen Frage eines Pharisäers nach dem großen (größten) Gebot im Gesetz (Mt 22,36), mit der er Jesus auf die Probe stellen will.


Bei Mk ist es ein einzelner Schreiber, der ganz allgemein nach dem ersten Auftrag von allen fragt. Den Begriff des Gesetzes, der Weisung bzw. der Tora (gr. nomos) vermeidet Mk bewusst, obwohl er seinem Jesus immer wieder einschlägige Stellungnahmen in den Mund legt (2,28; 7,19 Vgl. https://www.skandaljuenger.de/post/aus-dem-kleinen-abc-zum-markusevangelium-l-lehre).


Da Jesus von Gott bevollmächtigt ist, unterscheidet seine Lehre sich erkennbar von derjenigen der Schreiber (1,22). Das ist einer der vielen Hinweise, die ex ante zur Vorsicht gegenüber seinem Gesprächspartner mahnen sollten. Bis zuletzt zählen die Schreiber zu den Gegnern Jesu; bald nach dem Dialog droht er ihnen ein überreichliches (Gerichts-)Urteil an, das mit dem auffallenden Wort für überreichlich auf den Dialog rückbezogen ist (12,40 vgl. 12,33). 


Die Eingangs-Frage des namenlosen Schreibers nach dem ersten Auftrag beantwortet Jesus nicht etwa mit dem ersten Auftrag aus der Schöpfungsgeschichte (Gen 1,4), noch mit dem ersten Gebot des Dekalogs (Ex 2,20; Dtn 5,6), geschweige denn mit seinem eigenen ersten Befehl (1,15). Alternativ könnte er bei der Gelegenheit auch die noch offene Frage nach seiner Vollmacht beantworten (vgl. 11,33).


Jesus geht darauf nicht ein - und antwortet dennoch von vorneherein theologisch, indem er die deutungsoffene Frage nach dem ersten Auftrag (lat. mandatum) auf die Tora Gottes bezieht und überraschend den Beginn des Shma Israel zitiert (Dtn 6,4f), wodurch er den Schreiber auf die Probe stellt.


Denn im ersten Wort dieser Antwort liegt eine entscheidende Pointe. Der Imperativ (Höre!) ist in der Geschichte der erste und einzige, außerhalb von ihr der letzte Auftrag Gottes (vgl. 9,7). Ihm folgen die beiden Liebesgebote, die - wie die Gebote der Septuaginta - futurisch formuliert sind (du wirst lieben).


Das erste und eigentliche Thema des Dialogs ist somit nicht das sog. Doppelgebot der Liebe, sondern die von Mk kritisierte Unfähigkeit der hier ungenannten Judäochristen, auf Jesus zu hören. Das war von der Stimme [Gottes] dem Führungstrio ausdrücklich geboten (9,7), aber von ihnen nicht beachtet worden, die stattdessen nur den ihnen unverständlichen Begriff des Aufstehens untersuchen (9,10).


Mit der Eingangs-Frage greift Mk auf das Thema der vorangehenden Sadduzäer-Frage zurück, die ebenfalls von der Auferstehung handelt. Durch die konstruierte Witzgeschichte einer siebenfach kinderlosen Witwe, die als letzte von allen stirbt (12,22), wird der Fokus gesetzt. Die Themen Tod und Auferstehung sind damit präsent – als Deutungsrahmen für den Begriff des Königtums Gottes (vgl. https://www.skandaljuenger.de/post/ceterum-censeo-was-bedeutet-das-sog-reich-gottes).


Dass es in der Geschichte nicht einfach um eine Priorisierung von Geboten geht, sondern um den Auftrag Gottes, auf Jesus zu hören, zeigt schon die Exposition mit ihren beiden parallelen Partizipien. Der Schreiber sieht zuvor bei dem Gespräch mit den Sadduzäern, dass Jesus ihnen schön antwortet, er hört aber nur ihre Untersuchungen, die denjenigen des Führungstrios entsprechen (vgl. 9,10). Auf das Wort Jesu kann (oder will?) er nicht hören.


Entsprechend gönnerhaft fällt seine scheinbar wohlwollende Zustimmung aus: Schön, Lehrer! (12,32). Die lässt ahnen, dass er nicht verstehen wollte, was Jesus ihm zuvor erklärt hatte, zumal er in seiner Replik den entscheidenden Imperativ (Höre!) weglässt und sich nur noch auf das sog. Doppelgebot einlässt (12,32f).


Umgekehrt sieht Jesus dabei, dass der Schreiber Verstand-habend antwortet (12,34). Das ist kein Lob für eine vernünftige, überlegte oder gar weise Antwort. Jesus anerkennt (ironisch?) lediglich den Intellekt seines Gesprächspartners. Der Schreiber scheint umgekehrt die kryptische Zusage zu verstehen, dass er nicht weit vom Königtum Gottes sei, da nicht einmal er es wagt, eine [weitere] Frage zu stellen.


Diese Zusage aber ist kein freundliches Angebot Jesu an den Schreiber, sondern die Option einer endzeitlichen Heilsverheißung, die sich beim genauen Blick auf den Gesprächsverlauf als Ironie erschließt. Dazu soll der folgende kurzgefasste Gang durch den Text dienen.


Die Eingangs-Frage nach dem ersten Auftrag von allen beantwortet Jesus mit dem besagten Zitat des Shma Israel, das er scheinbar frei wiedergibt. Tatsächlich zitiert er es nicht schriftgemäß, wodurch er den Widerspruch des Schreibers auslösen müsste, zumindest aber eine kritische Rückfrage.


Der Schreiber hingegen sieht keinen Anlass zur Kritik, er hat offenbar keinen Sinn für den Wortlaut des ersten Schriftzitats, dem Jesus daraufhin das zweite, wörtlich zitierte, folgen lässt (Lev 19,18). Das dadurch entstehende sog. Doppelgebot ist eine weitere Pointe des Mk. Wer Gott und die Menschen liebt wie sich selbst, wird das Objekt seiner Liebe sich beliebig offenhalten können.


Die originelle Verknüpfung der beiden Schriftzitate geht somit nicht auf Jesus, sondern auf Mk zurück. Angesichts der ironisch zu deutenden Beliebigkeit einer derart umfassenden Liebe kann sie keinen Anhalt in der Lehre des historischen Jesus haben. Von der Liebe zum Nächsten ist schon bei Paulus die Rede (vgl. Gal 5,14; Röm 13,9); die zu Gott wird im christlichen Kontext hier erstmals gefordert.


Damit reagiert der Jesus des Mk auf das, was er dem Petros vorhält, der [nur] darauf achtet, was der Menschen, nicht aber, was Gottes ist (vgl. 8,33). Auf jenen Akteur also, den Mk ironisch mit dem Namen Simon einführt (von hebr. šimʿōn, Er hört, vgl. https://www.skandaljuenger.de/post/übersetzungsfehler-1-16-die-netze-des-simon-und-seines-bruders). Der schließlich in der Passionsgeschichte sich an die Schreiber dranhängt (14,54), bevor er definitiv sich von Jesus lossagt (14,71).


In seinem Hörproblem entspricht er dem judäochristlichen Kreis der Zwölf, die taub und blind sind für Jesus (8,18), weil sie ihn nicht als Gott, sondern nur als Menschen sehen können. Weshalb Judas schließlich als deren letzter Vertreter seine (falsche) Liebe zu ihm in einer falschen Weise zum Ausdruck bringt (14,44; vgl. https://www.skandaljuenger.de/post/judas-ein-verräter).


Wie Petros hat auch der Schreiber kein Ohr für Jesus, wenn er in seiner Replik die beiden Schriftzitate kritiklos zu einem einzigen zusammenfasst – und dies seinerseits falsch tut. Es ist bezeichnend, wie leichtfertig ausgerechnet er mit dem Wort Gottes umgeht. Das ist von jüdischer Text-Treue denkbar weit entfernt.


Hatte Jesus im ersten Zitat die drei Bedingungen von Gottesliebe ersetzt durch eine auffallende Viererkette, so lässt der Schreiber nun eine der vier Bedingungen weg, ausgerechnet eine, die in der Schrift genannt war.


Bezeichnend ist auch, auf welche Bedingung der Schreiber in seiner Replik verzichtet: die Seele bzw. das Leben (psyche). Wenn er also in seiner Replik ausdrücklich erklärt, dass diese Liebe überreichlich [mehr] sei als alle Brandopfer und (Schlacht-)Opfer, bringt er das Credo des Märtyrers auf den Punkt: Die Liebe zu Jesus bedeutet, auf sein Leben verzichten zu können.


Mit anderen Worten: Das Selbst-Opfer ist mehr als alle kultischen Opfer. Das hat nichts zu tun mit der Kultkritik der Propheten (z.B. Jes 1,11), vielmehr stellt es die Quintessenz der langen Rede Jesu dar (Mk 13). Die schließt an die Geschichte einer armen Witwe an, die bezeichnenderweise ihr ganzes Leben (bios) in die Schatzkammer einwirft (12,44).


Seine Zusage, dass der nach dem ersten Auftrag von allen fragende Schreiber nicht weit vom Königtum Gottes sei, deutet indirekt an, dass er als erster von allen stirbt, da er zum Verzicht auf das Leben bereit ist. Das wiederum löst die Scheu der zuvor ungenannten Anwesenden aus. Anstatt Jesus auf die Auferstehung anzusprechen, wagt niemand mehr weiterzufragen (12,34; vgl. 9,10).


Dafür greift Jesus von sich aus und doch antwortend den Christus-Titel auf (12,35ff), den Petros behauptet hatte (8,29). Dabei macht er sich über die Deutung der Schreiber lustig, wobei er sich offen auf sie und ihr Schriftverständnis bezieht (12,35). Sein Witz über den Davidssohn wird von Mk explizit als Lehre bezeichnet (12,35), ebenso die Androhung des überreichlichen Gerichtsurteils (12,38), nicht aber das sog. Doppelgebot.


Fazit: Die Liebe zu Jesus, die im Verzicht auf das eigene Leben erkennbar wird, ermöglicht den Zugang zum Königtum Gottes. Bei Mk steht sie im Kontrast zu jenen toratreuen Judäochristen, die nicht auf Jesus hören. Doch steht sie auch im zufälligen Konsens mit dem einen Schreiber, der von der Tora keine Ahnung zu haben scheint.


Im Unterschied zum letztlich skandalösen Verhalten des Petros sollen die Leser:innen des Mk dem Auftrag Gottes entsprechend auf Jesus hören, das Kreuz auf sich nehmen, ihm folgen und ihr Zeugnis auch in Bedrängnis durchhalten, bis zum Ende.

 
 
 

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