Aus dem kleinen ABC zum Markus-Evangelium: K – Kinder
Aktualisiert: 8. März 2023
In der kirchlichen Theologie wird die besondere Bedeutung von Kindern für Jesus immer wieder hervorgehoben. Sie wird in einer Linie gesehen mit seinem Einsatz für die Schwachen und Vernachlässigten der Gesellschaft, zu denen auch Witwen oder durch Scheidung verlassene Frauen zählen. Der Text des Mk ist für diese sozialromantische Interpretation allerdings nicht in Anrechnung zu bringen.
Mit zwei Begriffen für Kind (teknon, paidion) unterscheidet Mk die beiden christlichen Ethnien von Juden und Nichtjuden, die hier als Judäochristen und Völkerchristen bezeichnet werden. Sie beschreiben also nicht unterschiedliche Erscheinungsformen von Kindheit oder bloße Altersgruppen.
In deutschen Übersetzungen ist diese konsequent durchgeführte Differenzierung nicht erkennbar; mit dem einen deutschen Wort für Kind ist sie auch nicht oder nur über Umwege darstellbar.
Viele weitere Begriffe hängen mehr oder minder direkt mit dieser Unterscheidung zusammen. In zahlreichen Geschichten über Söhne oder Töchter werden ebenfalls entsprechende Identitätsfragen verhandelt; immer wieder geht es um Abgrenzungsprobleme der beiden Ethnien, die Mk rückwirkend in das Leben Jesu einträgt. Psychologische Aspekte, etwa die von Vater- oder Mutter-Kind-Beziehungen, spielen dabei keine Rolle.
Die beiden Begriffe für Kind haben, wie auch der Begriff der Schüler, überwiegend kollektive Bedeutung. Das Wort teknon steht im Anschluss an die Töchter Zion (z.B. Jes 62,11) für Judäochristen (vgl. 7,27), das Wort paidion (diminutiv, d.h. Kindchen) wird mit dem Bezug auf den Gottesknecht (vgl. Jes 53,2) für Nichtjuden bzw. Völkerchristen verwendet (z.B. 9,37). Wenn Jesus gerne als Freund kleiner Kinder dargestellt wird, beruht das auf einem Missverständnis, auf einer Fehldeutung des sog. Kinderevangeliums (10,13-16).
Da kommt Jesus im Anschluss an seine Lehre über die Ehescheidung auf Kinder (paidia) zu sprechen, die zu ihm kommen sollen (10,14). Damit sind im übertragenen Sinn Nichtjuden gemeint, die von sich aus zu ihm kommen können, die also durch seine judäochristlichen Schüler weder gebracht, noch daran gehindert, d.h. von ihm ferngehalten werden sollen.
Es ärgert Jesus, dass sie genau das tun (10,14). Der Ärger erklärt sich durch ihren bemerkenswerten Ungehorsam. Jesus hatte bereits ein (nichtjüdisches) Kind in ihre Mitte gestellt, in die Arme genommen und das mit einer Erklärung aus dem Gesandtenrecht unmissverständlich kommentiert: Wer immer eines von solchen Kindern aufnimmt in meinem Namen, nimmt mich auf (9,36).
Die Botschaft des Mk ist klar: Nichtjuden aus den Völkern sollen in die bislang jüdische Jesus-Sekte aufgenommen werden, trotz aller Abgrenzungsfragen und Konflikte. In ihnen wird Jesus aufgenommen und damit der Vater, der ihn gesandt hat (9,37). Wer nicht dazu bereit ist, sie zum Königtum Gottes zuzulassen, der wird selbst nicht ins Königtum zugelassen (10,15). Demonstrativ nimmt Jesus solche nichtjüdischen Neuzugänge in die Arme, legt ihnen die Hände auf und segnet sie (10,16).
So gesehen besteht die Lern-Aufgabe seiner judäochristlichen Schüler in der Bereitschaft, Menschen aus den Völkern bei sich aufzunehmen, nicht aber in der Sendung zu ihnen hin, in einer apostolischen Mission. Wie so oft, ändert Matthäus auch dieses Lernziel (vgl. Mt 28,19).
Kind-Geschichten sind Heilungs- bzw. Rettungsgeschichten, zunächst auf judäochristlicher Seite. Den Gelähmten, dem Jesus die Sünden nur deshalb erlässt, weil er den Glauben seiner vier Träger sieht, spricht er barsch als (jüdisches) Kind an (sic! teknon, 2,5). Dazu später mehr, in einem eigenen Blogbeitrag.
Das Töchterchen des Jairos ist das Objekt einer Auferstehungs-Geschichte, in deren Zentrum die Rettung einer anderen Tochter, der sog. blutflüssigen Frau erzählt wird (5,22ff). Dass die beiden Geschichten nicht nur aufeinander , sondern nach außen auch auf die Zwölf bezogen sind, steht angesichts der in beiden Krankheitsverläufen betonten Zwölfzahl außer Frage (5,25.42). Das wird ebenfalls in einem eigenen Blogbeitrag zur Sprache kommen.
Jedenfalls ist bemerkenswert, dass dieses Töchterchen des überdeutlich als Synagogenvorsteher bezeichneten Jairos durch Jesus zu einem Kind (paidion) wird. Mit dem Tod wird also die ethnische Unterscheidung gegenstandslos. Alle Kinder, auch von jüdischen Vätern wie Jairos, können zu Jesus gehören, wenn die mit ihm weggehen (5,24) und ihm vertrauen (5,36). Christliche Identität wird also nicht über die Mutter definiert, noch über die Taufe, sondern nur über das Vertrauen zu Jesus.
Die für den Jesus des Mk charakteristische Bewegung von den Juden zu den Heiden wird in der Geschichte der Fernheilung einer Tochter problematisiert (7,24ff). Auf Seiten der Völker ist es nun eine Mutter, eine in jüdischen Augen verrufene Syrophönizierin, die sich an Jesus wegen des Dämons ihrer Tochter wendet. Er reagiert, scheinbar unpassend, ihr gegenüber äußerst zurückhaltend: Lass zuerst die Kinder (Judäochristen) satt werden! (7,27).
Ihr Hinweis auf die Hündlein unter dem Tisch (7,28) lässt sich als schriftbezogene Spitze deuten, als ein versteckter Hieb auf gefräßige Hirten (vgl. Jes 56,11 MT). Der veranlasst ihn, ihr die Befreiung vom Dämon ihrer Tochter zuzusagen, der ohne eigenes Zutun ausgeworfen sei. Da sie aber samt dem eingangs genannten Unreinen Geist auf ihre (Ess-)Liege geworfen bleibt (sic! 7,30), sollen auch die (eucharistischen) Brötlein nicht einfach den Hündlein hingeworfen werden (7,27). Und ohne das aufweckende Wort Jesu fehlt ihr das Aufstehen am Ende, das über dem Anfang der Geschichte steht (7,24),
Ebenfalls auf völkerchristlicher Seite und parallel zur Tochter des Jairos lässt Jesus einen Sohn sterben (9,17ff), der laut der unzureichenden Diagnose des Vaters seit seiner (völkerchristlichen) Kindheit unter einem sprachlosen Geist leidet (9,21). Tatsächlich begreift der Vater weder das Ausmaß der Krankheit, der äußerst paradoxen Probleme, die die vorausgehenden Konflikte über die Auferstehung abbilden, noch die Autorität Jesu (Wenn du kannst, 9,22).
Jesus weckt seinen Sohn schließlich auf, aber nicht deshalb, weil ihm an seiner Rettung gelegen wäre, sondern aus dem banalen Grund, weil eine Menschenmenge hinzuläuft (9,25). Der Sohn, der schwer unter den paradoxen Folgen falscher Lehre zu leiden hat, ist das Objekt einer öffentlichen Demonstration. Und doch können die Schüler nicht nachvollziehen, dass sie für diese Lehre verantwortlich sind, da ihnen die Einsicht in die Frage der Auferstehung ebenso fehlt (9,10) wie ihr Gebet und damit die Autorität zur Heilung (9,28). In einem Gebet im Ton eines Klage-Psalms bringt Jesus seinen Unwillen über die gottgewollte Gemeinschaft mit ihnen zum Ausdruck (9,19).
Einige Nebenfiguren weisen mit ihren rätselhaften Angaben auf spezielle Vater-Beziehungen hin. So ist Levi (2,14) ebenso ein Sohn des Alphaios wie der sog. kleine Jakobos (3,18). Bartimaios, der Sohn eines (griechischen) Timaios, steht in ähnlich spannungsvoller Beziehung zum Sohn Davids (10,46) wie Barabbas, Sohn des Vaters, zu Jesus, dem Sohn des Menschen (15,7ff) bzw. zum vaterlosen Petros. Sie alle werden im Rahmen dieses Blogs noch in den Blick genommen werden.
Eine randständige und doch wichtige Vaterfigur ist Simon, ein Kyrenaier, der dritte Simon der Passionsgeschichte (15,21). Dieser vom Acker kommende, leidensbereite Vater muss sein Kreuz tragen und folgt damit, im Gegensatz zu Petros, der zentralen Lehre Jesu (8,34). So kann er zum Vater der griechischen und der römischen Völker werden durch seine beiden Söhne (Alexander und Rufus; 15,21).
Das bedeutet: Nicht etwa Simon, der Petros, sondern dieser Simon (der „Herrnhauser“) ist ein neuer Abraham und Vater vieler Völker. Petros kann und darf allenfalls Menschenmengen fangen, die so schnell wieder weg sind, wie sie gekommen waren (vgl. 4,10).
Wen liebt Jesus mehr: Judäochristen oder Völkerchristen? Mk gibt darauf eine Antwort am Beispiel einer weiteren Kontrastfigur zu den Zwölf - im Anschluss an das sog. Kinderevangelium. Da geht es um einen Menschen, der ohne jüdische Abstammung und ohne Jesus-Nachfolge die entscheidende Frage nach dem Ewigen Leben stellt (10,17). Dass er es nur als ein Kind Gottes erben kann, wäre die implizit mitgedachte, aber unausgesprochene Antwort auf seine Frage.
Ihn allein liebt Jesus (10,21), nicht etwa deshalb, weil er seit je die speziellen, vom Dekalog abweichenden Gebote befolgt , die Jesus ihm gegenüber aufzählt. Jesus liebt ihn, weil er sich abseits des Konflikts von judäochristlicher und völkerchristlicher Identität positioniert.
Das zeigt er nach der Aufzählung der Gebote, die er von Jugend an befolgt habe, mit seinem Wort für Jugend (neotēs). Er ist also weder Jude noch Grieche (vgl. Gal 3,28; Röm 10,12) – und scheitert doch mit seiner Absicht, Ewiges Leben zu erben, weil er als Erbe auf Besitz aus und zum Verzicht nicht bereit ist.
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