Wozu dieser Blog? - Grundlagen-Bestimmung (1/3)
Aktualisiert: 22. Okt. 2023
Eine Antwort darauf sei hier mit einer Grundsatz-Frage versucht: Wie lässt sich das Markus-Evangelium verstehen? Aufschluss darüber sollen drei kurzgefasste Thesen geben, die nicht mit dem Konsens der Neutestamentlichen Forschung deckungsgleich sind, aber so etwas wie die hermeneutische Basis meiner hier eingestellten Beiträge darstellen. Sie sind bewusst zugespitzt formuliert, als Einladung zur weiterführenden Diskussion.
1. Der Mk-Text verlor durch die Rezeptionsgeschichte seine ursprüngliche Bedeutung.
Als Teil des biblischen Kanons und spätestens für diesen Rahmen wurde er zu einer Heiligen Schrift, zu einem Evangelium - und insofern als Wort Gottes interpretierbar.
2. Der Text des Mk wurde weitgehend von Matthäus übernommen und durch dessen Adaption sowie durch bewusste oder versehentliche Änderungen in späteren Abschriften und Übersetzungen bis zur Unkenntlichkeit entschärft.
3. Im Schatten der anderen Evangelien wurde der Mk-Text, wenn überhaupt, als Biographie Jesu gedeutet, nicht als subversive Spottschrift gegen die Legitimation der Apostel, insbesondere gegen die des Petros.
Im Folgenden dazu einige Erklärungen, ebenfalls kurzgefasst und bewusst ohne Anspruch auf die in der Wissenschaft geforderte Tiefenschärfe, geschweige denn auf Vollständigkeit.
Ad 1.
Eine heilige Schrift wird diesem Anspruch gemäß wahrgenommen und als solche anders verstanden werden als in ihrem ursprünglichen Entstehungskontext. Den können wir bei Mk nur vermuten, wie bei anderen biblischen Schriften auch. Doch zum Verfasser eines Evangeliums konnte er erst dadurch werden, dass der Text posthum so genannt und entsprechend gedeutet wurde.
Nicht zu belegen ist, wie weit der Text auf mündlichen Traditionen beruht oder für den mündlichen Vortrag gedacht war (vgl. 13,14). Zunächst hat er als genuine Literatur zu gelten, als kunstvoller Prototyp jener späteren Literaturgattung Evangelium, die dogmatische Konflikte nicht wie Paulus und dessen Nachfolger in argumentativ-paränetischer Briefform, sondern in einer an alttestamentlichen Schriften orientierten Erzählform aufgreift und bearbeitet. Welche Rolle die in der Wissenschaft eifrig vermuteten Jesus-Traditionen gespielt haben, lässt sich nicht mehr feststellen.
Da die Konflikte bei Mk oft nur angedeutet und nicht annähernd so klar beschrieben sind wie bei Paulus oder auch in den anderen Evangelien, wurden sie in der Rezeptionsgeschichte vernachlässigt; der Fokus blieb auf Jesus und seiner Nachfolge. Der Grund dafür ist noch ein anderer, nämlich die Kritik an der Führungsriege der Zwölf, insbesondere am judäochristlichen Triumvirat der Säulen (vgl. Gal 2,9), die durch Mk erstmals als lernunfähige Schüler (Jünger) dargestellt wurden. So gesehen versteht sich die ursprüngliche Anonymität des Verfassers von selbst.
Bei Mk sind Konflikte erkennbar etwa an den Widersprüchen und Paradoxien, die seinen Erzählstil auszeichnen, die aber im mündlichen Vortrag, etwa im Rahmen einer Liturgie, nicht angemessen wiedergegeben bzw. in ihrer Komplexität nicht erfasst werden können. Daher musste in nahezu allen Übersetzungen und Auslegungen Rätselhaftes verständlich und Unsinniges plausibel gemacht werden.
Mit anderen Worten: die vom Verfasser bewusst komponierten Brüche wurden geglättet. Ein bisher kaum bekanntes Beispiel ist die Tautologie der doppelt genannten Kreuzigung (15,24.25). Und sie kreuzigten ihn (im Praesens historicum) […] Und sie haben ihn gekreuzigt (im Aorist).
Im Kontext der Bibel, als Heilige Schrift verstanden, wurden zudem ironische und andere uneigentliche Aussagen wörtlich genommen. Witzige Grobheiten, besonders in den Worten Jesu, wurden in Übersetzungen abgemildert (z.B. 4,39, etwa: Schweig, Schnauze) und die Sprache insgesamt der Funktion eines heiligen Textes angeglichen. Wichtige Wörter wurden zu christlichen Fachbegriffen aufgewertet: Aus dem Aufstehen wurde die Auferstehung, aus dem Eintauchen eine Taufe, aus den Schülern wurden Jünger. So konnte der machtkritische Text mit seiner oft minderwertigen Umgangssprache, seinen judaisierenden Erzähl-Elementen und anderen stilistischen Fremdkörpern (z.B. 8,25 τηλαυγῶς) als harmlose Heiligenvita (miss)verstanden und gedeutet werden.
Die allermeisten Akteure des Mk sind literarische Erzählfiguren, keine historischen Persönlichkeiten, die vom Verfasser realitätsnah beschrieben oder gar als Heilige porträtiert worden wären. Im Gegenteil, ihr begrenztes Wahrnehmungsvermögen gegenüber Jesus als dem Gottessohn zeigt die textpragmatische Tendenz, den Zeitzeugen Jesu keinerlei Erkenntnis-Vorteile einzuräumen gegenüber späteren Generationen, die Jesus nicht – oder nur in angeblichen Visionen – sehen konnten und können.
Anders als üblicherweise angenommen, stehen diese Akteure uns, den Leser:innen und Hörer:innen des Mk-Textes, nicht einmal als Identifikationsfiguren zur Verfügung. Denn dazu muss der subtil versteckte Witz ihrer Darstellung, vor allem aber ihre ursprüngliche narrative Funktion ignoriert werden. In der kirchlichen Praxis ist das freilich gang und gäbe; unter Umständen mag es von Vorteil sein, einen Text anders auszulegen, als er gedacht war.
Wie schwer es aber fällt, auf die eigenständige Theologie des Mk sich einzulassen und dafür uralte, liebgewordene Deutungsmuster aufzugeben, zeigt sich insbesondere dort, wo die Erzählung des Mk schon durch die des Matthäus geglättet oder zu neuer Bedeutung gebracht wurde. Damit sind wir bei der zweiten These: Unsere Wahrnehmung der biblischen Erzählungen beruht primär auf Matthäus, nicht auf dem älteren Mk.
Ad 2.
Die Abhängigkeit des Matthäus-Textes von dem des Mk steht außer Frage, da rund 80% der älteren Erzählung mehr oder minder wörtlich übernommen sind. Sie ist freilich mehr als nur eine quantitative Größe. Viele Änderungen lassen ein neues theologisches Konzept erkennen, dazu auch ein stark verändertes Bild der Akteure. Die Zwölf werden bei Mt zu Garanten der Tradition; im Auftrag und im Namen Jesu sollen sie die weltweite Mission und dabei auch richterliche, wenn nicht sogar endzeitliche Mitverantwortung übernehmen (vgl. Mt 18,18).
Der neuen ekklesiologischen Sonderstellung des Petros steht dennoch sein Kleinglaube gegenüber (Mt 14,31). So wird er zum Fels der Kirche und als solcher zum Repräsentanten Jesu rehabilitiert, zugleich aber als angefochtenes Vorbild eines eifrigen Nachfolgers dargestellt, als Inbegriff eines Jüngers, der sich erst noch bewähren muss und doch auf Vergebung hoffen darf.
Weitreichende Folgen hatte die Umarbeitung des Matthäus auch für das Bild Jesu: Hatte Mk ihn als allseits unerkannten Gott in Knechtsgestalt gezeichnet (vgl. Phil 2,7), so wird er bei Matthäus zum machtvollen Messias, der sein Gottesvolk Israel sammelt und Menschen weltweit für das Himmelreich sammeln lässt. Dafür werden die Jünger als Apostel eingesetzt; sie werden in die Welt hinaus gesandt, in der sie als Licht der Welt leuchten und missionarisch wie diakonisch tätig werden sollen.
Die Adaption, die Mt auf unterschiedlichen Erzähl-Ebenen, nicht nur mit begrifflichen Mitteln, vornimmt, wirkt oft wie eine Korrektur des Mk-Textes. Das zeigt sich insbesondere dort,
- wo durch Komprimierungen und Straffungen die Pointen des Mk unkenntlich werden.
- wo die symbolisch aufgeladene Begrifflichkeit des Mk ignoriert oder ersetzt wird.
- wo einzelne Geschichten einen völlig neuen Deutungsrahmen erhalten.
Matthäus scheint neben vermeintlichen Fehlern vieles zu verbessern, was bei Mk auf den ersten Blick umständlich erzählt oder sogar überflüssig wirkt. Seinen Jesus lässt er nicht mehr auf Aramäisch beten, sondern jüdischer, nämlich auf Hebräisch (bei Mk ein bewusster Globalisierungstrick). Seine Gerichts-Androhungen gelten nicht in erster Linie (wie bei Mk) den Schülern, sondern allen, die seine Lehre missachten. Seine Ostergeschichte formt er (im krassen Unterschied zu Mk) zur echten Epiphaniegeschichte um, ohne Petros zu erwähnen oder gar nachösterlich zu rehabilitieren (vgl. dagegen Kap. 21 im Evangelium nach Johannes).
Die außerordentliche Wertschätzung des Matthäustextes wirkte im Lauf der Überlieferungsgeschichte auf den des Mk zurück. In dessen handschriftlicher Überlieferung ist deutlich zu sehen, wie unzählbar viele Änderungen und Abschreibe-Fehler auf den ungleich bekannteren Matthäus zurückgehen. Durch seine an Mose anknüpfende, an das jüdische Gesetz rückgebundene Jesusdarstellung mit den berühmten fünf Reden konnte Matthäus die Pointen des völkerchristlich orientierten Mk-Textes unschädlich machen.
Vergleichbare Wechselwirkungen gibt es auch gegenüber dem Text des Lukas. Doch im Unterschied zu Matthäus (und Mk) kann er durch die Aufteilung in zwei verschiedene Bücher Konflikte im Evangelientext aussparen und in seine historisierenden Berichte der Aposteltaten übernehmen. Dadurch entfällt die kunstvolle Verschränkung der verschiedenen Zeitebenen, die für Mk typisch und insofern von Bedeutung ist, als er seine eigene Zeit, die erzählte Zeit sowie deren Vergangenheits- und Zukunftsperspektiven raffiniert changieren lässt, am deutlichsten in Kap. 13.
In Übersetzungen wird dem spezifischen Profil des Mk oft nur wenig zugetraut, zumal dort, wo die Fassung des Matthäus verständlicher, womöglich sogar besser erscheint als die des Mk. Dazu sei als Beispiel ein Schlüsselsatz der wirkmächtigen Messiasgeheimnis-Theorie genannt, der durchweg falsch wiedergegeben wird (9,9). Die Fehldeutung beruht u.a. auf der Voraussetzung, dass es sich dort um eine Frist handle, dass also Jesus erst nach Ostern als Messias verkündet werden sollte (bis der Menschensohn von den Toten auferstanden sei, vgl. Mt 17,9). Tatsächlich aber macht Jesus einen – nicht nur von seinen Schülern – missverstandenen Witz, ganz ohne terminliche Perspektive (außer, wenn der Menschensohn aus [den] Toten auferstanden sei; vgl. dazu https://www.skandaljuenger.de/post/die-geschichte-der-verklärung.).
An diesem Beispiel wird neben der Fragwürdigkeit der Messiasgeheimnis-Theorie die bis heute nachwirkende Dominanz des Matthäustextes gegenüber Mk deutlich, und dies sogar in einem exegetisch ausgerichteten Wissenschaftszweig.
Eine weiterer Beleg schließlich zeigt, wie diese Dominanz sich sogar in unsere Sprache hinein ausgewirkt hat: Die Redewendung einer Auferstehung von den Toten ist weder bei Paulus, noch bei Mk, sondern nur bei Matthäus zu finden; bei Mk ist jeweils von einem Aufstehen aus [den] Toten die Rede.
Ad 3.
Seit je ist es ein elementares wie nachvollziehbares Anliegen der Kirche, ein plausibles Jesusbild zu vermitteln und sich dabei nicht durch Widersprüche und Paradoxien stören zu lassen. Dafür war der Mk-Text mit seiner Fokussierung auf das inszenierte Missverstehen der Worte und Taten Jesu a priori weniger geeignet. Dass er überhaupt überliefert wurde, könnte mit seiner raschen Verbreitung, aber auch damit zu erklären sein, dass sein sog. Sondergut nicht unter den Tisch fallen sollte.
Gerade diese Geschichten, die nur Mk überliefert, sind besonders aussagekräftig. Denn sie zeigen noch deutlicher einen Verfasser, der gerade nicht an bloßen Jesus-Überlieferungen interessiert ist, sondern an der kunstvoll-pointierten Entlarvung der Akteure. Dank der textkritischen Möglichkeiten neutestamentlicher Forschung ist der Text insgesamt erstaunlich gut erhalten bzw. rekonstruierbar. Wenige Konjekturen sind nötig (z.B. 1,1; 16,1), um seine Stringenz und den kunstvollen, im kirchlichen und akademischen Diskurs vernachlässigten Witz wiederherzustellen und verständlich zu machen. (vgl. auch https://www.skandaljuenger.de/post/übersetzungsfehler-in-der-bibel-falsche-fragen
Sein Ziel hat Mk gleichwohl nur teilweise erreicht. Jesus ging gegen seine Chrestologie (vgl. Röm 16,18) als Messias in die Kirchengeschichte ein, wobei der von Mk abgelehnte Christus-Titel als Namensbestandteil angedeutet wird (6,14); die anschließende Herodes-Geschichte zeigt – in offenem Gegensatz zur historischen Realität – die grotesk verfremdeten Folgen des jüdischen Königstitels. Die herausragende Bedeutung, die der historische Petros gehabt haben muss, zeigt sich bei Mk paradoxerweise darin, dass ihm auf der Handlungs-Ebene keine besonders umfangreiche Rolle zukommt.
Seine Bedeutung hatte der weit verbreitete Text möglicherweise vor allem für diejenigen, die ihn als Märtyrer oder als Eremiten ernst genommen und den Jesus des Mk zum Vorbild genommen haben. Es liegt in der Natur der Sache, dass sie – entgegen ihrer eminenten kirchengeschichtlichen Bedeutung – nicht aktiv zur Rezeptionsgeschichte beitragen konnten, an der sie doch beteiligt waren.
Schließlich noch einige grundsätzliche Bemerkungen.
Sowohl die kirchliche, als auch die akademische Text-Rezeption ist wesentlich durch die Aufteilung der ganzen Schrift in einzelne Perikopen geprägt. Was dem episodenhaften Erzählstil des Mk zu entsprechen scheint, verhindert zugleich die Wahrnehmung seiner komplexen, oft in bloßen Anspielungen verwobenen, ironisch uneindeutigen Kritik.
Auch die Kapiteltrennung und die Verseinteilung stören mehrfach die ursprünglichen Zusammenhänge und damit ein angemessenes Text-Verständnis, von den redaktionell eingezogenen Überschriften ganz zu schweigen. So geht etwa mit der Teilung vor Kapitel 15 der symmetrische Aufbau verloren, nämlich die für Mk typische Sandwich-Konstruktion über die zum Tod führende Christus-Frage (Prozess über den Christus / Leugnungen und Apostasie des Petros / Prozess über den König der Judäer). Gegen den Text erfolgte auch die Abtrennung von Kapitel 16 zugunsten einer selbständigen Oster-Erzählung. (Vgl. https://www.skandaljuenger.de/post/die-geschichte-der-auferstehung).
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