Glosse: Nachhilfe – in Mathe?
Aktualisiert: 3. Juli 2023
Non vitae sed scholae discimus, meinte einst Seneca, der Jüngere (Epistulae 106,12). Doch seine Sentenz wurde in den Schulen umgedreht, unterrichtet wurde später das Gegenteil: Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.
Ähnlich erging es einem Jesuswort im Markus-Evangelium: Amen, ich sage, wenn dieser Generation ein Zeichen gegeben wird (8,12). Schon in lateinischen Übersetzungen wurde der Nebensatz umgedeutet und in sein Gegenteil verkehrt: Non dabitur generationi isti signum. Einmal mehr hatte Matthäus die entsprechende Vorlage dazu geliefert (Mt 16,4).
Als Schriftsteller konnte Mk, der jüngere und anonym schreibende Zeitgenosse Senecas, kaum so reich und berühmt werden wie der Dichter auf dem Philosophenstuhl. Wichtiger als der eigene Ruhm war ihm das zweifelhafte Bild, das er von Jesus als einem Lehrer zeichnete. Dessen Problem waren, pardon, allein die Schüler.
Ähnlich mag es Seneca ergangen sein, als Lehrer des jungen Nero. Dessen Erziehung wurde später zum Problem, nicht zuletzt wegen der Fama, der Künstler auf dem Kaiserstuhl habe den Brand Roms veranlasst. Die Tradition der Kirche behauptet gar einen Zusammenhang zum ersten Schüler Jesu, zu Petros . Als erster Bischof von Rom, auf dem Stuhl Petri sozusagen, sei er ein Opfer der anschließenden Christenverfolgung geworden.
Mit seiner kritischen Sentenz räumt Seneca immerhin die Möglichkeit eines Lernerfolgs ein, den Mk den Schülern Jesu grundsätzlich nicht zutraut. Was vier von ihnen ausdrücklich zu lernen haben, ist ein Rätsel über einen Feigenbaum: Wenn sein Zweig schon zart wird und die Blätter herauswachsen, erkennt ihr, dass der Sommer nahe ist (13,28). Ob aufmerksame Schüler die feine Ironie dieser Aufgabe bemerken?
Die Sentenz Senecas war jedenfalls gegen römische Philosophen-Schulen gerichtet, die er als lebensfern kritisierte: An überflüssigen Problemen stumpft sich die Schärfe und Feinheit des Denkens ab; derlei Erörterungen helfen uns ja nicht, richtig zu leben, sondern allenfalls, gelehrt zu reden.
Ketzerische Zeitgenossen mögen solche Kritik gegen heutige Theologen-Schulen in Stellung bringen, auch gegen einige Lehren des 265. Nachfolgers auf dem Apostolischen Stuhl, jenes scharf und fein denkenden Lehrers, der ein Opfer seines Stuhls geworden und inzwischen mit seinem Latein am Ende ist.
Auch ein Nachfolger Petri kann falsch verstanden werden. Unter denjenigen, die Jesus nicht verstehen und deshalb nichts lernen, fallen besonders Petros, Jakobos und Johannes auf. Doch es gibt auch andere, ahnungslose Pharisäer etwa, die Jesus prüfen wollen und zu der Frage veranlassen, warum diese Generation ein Zeichen von ihm sucht (8,11). Darauf folgt das eingangs genannte Amen-Wort, das seit je umgedeutet wurde.
Das ist das nicht einmal ignorierte Problem des Mk: Schüler, deren Lernstörungen niemanden stören, ihren Lehrer ausgenommen. Jesus will die Zwölf, die ohne jede apostolische Beauftragung unterrichtet hatten, aus dem Verkehr ziehen und in die Wüste schicken (6,30f). Beim Lehren lernen die Menschen, würde Seneca ihnen zugute halten (Homines dum docent discunt; Ep. Mor., I, VII, 8). Hier irrt Seneca.
Vom Jesus des Mk waren sie nicht zur Lehre ausgesandt (6,7ff), auch nicht zur Mahlfeier (6,8). Nach der Erfahrung ihres Aposteldienstes, ihrer eigenmächtigen Lehre und eines Aktionismus, der jegliche Mahlfeier verhindert, schickt Jesus sie zum Ausruhen nur in die Einsamkeit (Vorsicht, Ironie!). Dabei vermeidet er Formulierungen, die nach einer weiteren Aussendung aussehen könnten: Hierhin, ihr selbst für euch, an einen einsamen Ort! (6,31).
Ihre Lehre führte nicht dazu, dass man Jesus für den Retter, wenigstens für ihren Lehrer hält, sondern für ein Kuriosum wie den eben erst enthaupteten, auferweckten Johannes d. T., für Elia oder für einen Propheten wie jeden anderen (6,14). Dieser Mangel an Erkenntnis ändert sich nicht, wie sie später kommentarlos zugeben (8,28). Übertroffen wird er nur durch eine Behauptung des Petros (Du bist der Christos, 8,29).
Trotz ihrer Lernstörung sprechen die Schüler Jesus als Lehrer an, nicht als ihren Retter (4,38). Besonders lernunwillige Schüler sind Jakobos und Johannes (9,38; 10,35). Für die Zwölf, zumindest aber für Petros und Judas, ist Jesus ein Rabbi, ein jüdischer Lehrer, wenn auch im jeweils falschen Moment (9,5; 11,21; 14,45).
Übertroffen wird deren Anrede nur von den Äußerungen eines Blinden, der Jesus erst für einen jüdischen Sohn Davids, dann für einen aramäischen Rabbuni hält (10,51; Vorsicht, Ironie!). Mk hat Sinn für Satire; den für Pointen hat er mit Seneca gemein.
Humor gebietet der Jesus des Mk übrigens auch den Zwölfen und über sie hinaus den Leser:innen, die (den Witz von Attischem) Salz in sich und Frieden untereinander haben sollen (9,50). Matthäus deutet dieses Doppelgebot um, indem er die Schüler zum Salz der Erde und Licht der Welt verklärt (vgl. Mt 5,13). Die apostolische Kirche hat es seit je ignoriert; ihre Lehre wurde auf der Basis des Matthäus zur humorfreien Zone.
Der Witz zeigt sich ausgerechnet bei einer Mathe-Stunde. Kritisch geht Jesus auf die Schüler los: Noch nicht begreift ihr und nicht versteht ihr? (8,17). Und er benennt auch den Grund dafür. Mit Anleihen aus den Propheten erklärt er ihnen, sie hätten ihr Herz versteinert (8,17; vgl. Jer 3,17), zudem hätten sie Augen, mit denen sie nicht sehen, und Ohren, mit denen sie nicht hören (8,18; vgl. Jer 5,21). Mit anderen Worten: Sie sind blind und taub für Jesus (vgl. 4,11ff; Jes 6,10 LXX).
Nach dieser speziellen Hinführung lässt er zur Lernziel-Kontrolle ein Abfragen folgen. Zuerst fragt er seine Schüler, wie viele Körbe von (Brot-)Stücken sie aufgehoben hätten, als er die 5 Brote für die 5000 brach. Sie antworten 12, in Worten: Zwölf. Da könnten sie auf die Idee kommen… Nein, sie nicht. Sie wagen wohl nicht, ihn zu fragen (vgl. 9,32).
Denn das Abfragen geht gleich weiter. Anstatt sie für ihre richtige Antwort zu loben, legt Jesus mit einer parallelen Frage nach. Wie vieler Körbe Füllungen sie bei den 7 Broten für die 4000 aufgehoben hätten? Wieder antworten sie richtig, diesmal mit der 7. Wie auch immer sie zu diesem Ergebnis gekommen sind: mit der Sieben liegen sie wieder goldrichtig. In Mathe brauchen sie keine Nachhilfe. Wo dann?
Jesus ist mit den Antworten seiner Mathetai nicht zufrieden, die Beurteilung am Ende (Ihr versteht noch nichts! 8,21) fällt vernichtend aus, beantwortet aber seine kritische Eingangsfrage (8,17). – Darf man als Lehrer so mit seinen Schülern umgehen, wenn die doch die zutreffenden Antworten geben? Sind seine hinführenden Worte angemessen, insbesondere der zuvor unerwähnte Vorwurf Ihr erinnert euch nicht! (8,18)? Sind da nicht Zweifel an der Methodik angebracht?
Angeblich gibt es im Schulunterricht keine dummen, wohl aber falsche Fragen. Die Fragen der Schüler deuten jedenfalls auf massive Lernstörungen hin. Woher wird jemand die hier mit Broten weiden können in der Wüste? (8,4). Darauf könnten sie selbst die Antwort geben, wenn sie wollten.
Jesus beschreibt ihnen den Hunger seiner (nachösterlichen) Gemeinde aus Juden und Nichtjuden. Doch dafür interessieren sie sich nicht. Sie sind unwillige Hirten, die ihre Schäfchen nicht weiden wollen, vermutlich nur, weil einige von Ferne gekommen sind (8,3). Jedenfalls lehnen sie mit ihrer Frage auch die aufopferungsvolle Hingabe Jesu ab, der gegen ihren Unwillen schon mal 5000 Mann gesättigt hatte (6,42f). Das hätten sie lernen können.
Die Geschichte ist allgemein bekannt. Die Kirchen und mit ihnen ihr emeritiertes Oberhaupt sprechen von einer wundersamen Brotvermehrung, haben also bis heute nicht gelernt, worauf es Mk ankommt. Kaum besser sieht es in der akademischen Theologie aus, wo von der Dublette eines Geschenkwunders geredet und behauptet wird, historische Speisungen Jesu seien posthum zu Speisungswundern umgedeutet worden. Derart wundersamer Wortvermehrung lässt sich mit Mitteln der Satire begegnen, am besten mit der des Mk.
Sein Jesus beklagt also vor dem Abfragen der Schüler, dass die sich nicht erinnern könnten. Woran aber sollten sie sich erinnern, wenn sie die Zahlen goldrichtig im Gedächtnis haben? Was soll bitte falsch sein an ihren Antworten? Des Rätsels Lösung findet sich verschlüsselt in den Zahlen – und in der Formulierung seiner Fragen.
Die Zwölf und die Sieben: Die Zahlen der beiden Speisungs-Geschichten stehen für zwei verschiedene Leitungsgremien der frühen Christen, die Zwölf für das Machtzentrum der Judäochristen, die Sieben für das der späteren Völkerchristen (der aus jüdischer Perspektive unreinen Hellenisten). Daher ist die erste Mahlfeier mit der Sättigung der 5000 im jüdischen Kontext, die zweite der 4000 in einem gemischten Umfeld von Juden und Nichtjuden angesiedelt.
Auch für die Sieben gibt es einen historischen Anhalt, nicht nur für die nach römischer Lesart allein selig machende Zwölf. Lukas behauptet in seiner Apostelgeschichte, die Sieben (sog. Diakone) seien ein von den Zwölfen für die Mahlfeier eingesetztes Gremium zur Versorgung der Hellenisten (Apg 6,1ff). Seinen Angaben zufolge sind einige von ihnen in der Lehre tätig, mit welcher apostolischen Beauftragung auch immer (Apg 6,9f; 8,30ff).
Mit dem gemeinsamen Mahl von Juden und Nichtjuden spricht Mk ein unlösbares Dilemma an: die Mahl-Gemeinschaft von Judäochristen und Völkerchristen. Zum Problem wurde es vor allem durch Petros, der zunächst daran teilgenommen, sich dann aber von den Nichtjuden distanziert hatte. Über seine Kehrtwende klagt Paulus offen im Galaterbrief (Gal 2,11ff); Mk stellt sie mit narrativen Mitteln dar. Der Opportunismus des Petros ist ebenso wie der des Herodes und des Pilatus typisch für die Macht von Menschen. –
Die für die Schüler und ihre Lernstörungen typischen Gedächtnisprobleme sind schon vor der genannten Unterrichtseinheit erkennbar. Ausgelöst wird die durch eine Bemerkung, mit der die Schüler die Warnung Jesu vor dem Sauerteig der Pharisäer und vor dem Sauerteig des Herodes ignorieren (8,15), vor jenen beiden Gruppen also, die ihn längst vernichten wollten (3,6).
Die Schüler schieben seine Warnung mit dem Argument beiseite, dass sie vergessen hätten, Brote mitzunehmen (8,14), womit sie kaum die sieben Körbe an Füllungen meinen können, die sie aufgehoben, nun aber mitzunehmen vergessen hatten. Nicht die Schwäche im Gedächtnis ist ihr eigentliches Problem, sondern die der Erkenntnis, bei der es eine akademische Sukzession zu geben scheint.
Sie bemerken nicht, dass sie mit Jesus doch ein Brot bei sich haben (8,14). Und sie verstehen auch nicht, dass er die Füllungen (die Fülle des Heils) nurmehr im Kontext der zweiten, der universalen Sättigung benennt (8,20). Im Wortlaut der beiden Sättigungs-Erzählungen war es umgekehrt: Da wurden die Füllungen auffallend umständlich nur bei der ersten erwähnt.
Überall dasselbe Bild: Die Schüler lernen (noch) nichts über die wahre Bedeutung des Brotes zur geistlichen Sättigung; da bräuchten sie dringend Nachhilfe. Und allzu oft missachten sie auch die Menschenmengen, die als zweifelhafter Erfolg des Menschenfischers sich verrechnen lassen. Auf Petros spielt der Vorwurf an: Ihr habt euer Herz versteinert! (8,17).
Damit wiederholt Jesus den Vorwurf, der erstmals nach jener dramatischen Epiphanie-Szene auf dem Meer zur Sprache kommt, bei der sie Jesus für ein Gespenst halten, nicht aber für ihren Retter (6,49), und trotz seiner Selbst-Offenbarung nicht erkennen (Ich bin, 6,50). Danach heißt es kommentierend: Denn sie waren durch die Brote nicht verständig geworden, sondern ihr Herz war versteinert (6,52).
Mit Petros, dem Hauptstein (vgl. 12,10), der den Weg zur gemeinsamen Mahlfeier mit Nichtjuden blockiert, und den judäochristlichen Zwölf kann es keine Erkenntnis Jesu im Mahl geben. Das ist die verschlüsselte Botschaft des Mk: Nicht die erste Generation der Schüler, nicht die Augen- und Ohren-Zeugen haben Jesus erkannt, sondern alle diejenigen, die durch seine Fürsorge vom Brot der Mahlfeier gesättigt werden, Juden wie Nichtjuden (6,42; 8,8). Trotz der Zwölf.
Die werden bei der letzten Mahlfeier Jesu nicht gesättigt (14,22). Mk lässt offen, ob sie vom Brot überhaupt essen oder doch schon anderweitig satt sind. Fasten müssen sie nach seinem Tod ohnehin (vgl. 2,20), doch nicht etwa, weil es kirchlicher Brauch wäre, sondern weil sie kein Brot mehr haben, keinen Jesus, nur die aufgehobenen Stücke (Vorsicht, Ironie?).
Zu den blinden und tauben Augen- und Ohren-Zeugen zählt an erster Stelle Petros. Weil seiner Vision eines Christus nicht zu trauen ist (vgl. 13,21), wird er, der angeblich erste Augenzeuge des Auferstandenen (vgl. 1 Kor 15,5), bei einer anschließenden Scheinheilung als unheilbar Blinder dargestellt (8,22ff). Die Heilung des zweiten Blinden zeigt den Unterschied (vgl. https://www.skandaljuenger.de/post/die-geschichte-des-bartimaios-mk-10-46ff).
Das ist Satire vom Feinsten: Wie dieser erste Blinde nach einem für die Erkenntnis Jesu erfolglosen Therapieversuch erklärt, er erblicke die Menschen, weil er sie wie Bäume herumgehen sehe (8,24). Da hat er schon einen fragwürdigen Blick für Menschen, doch nach seiner Wiederherstellung erkennt er Jesus nicht, so wenig wie der Menschenfischer den Auferstandenen bei der Verklärung (vgl. https://www.skandaljuenger.de/post/die-geschichte-der-verklärung).
Davor aber, direkt vor der zweiten Sättigungsgeschichte der 4000 Juden und Nichtjuden, ist Petros jener Gehörlose, der nur Unsinn lallt, nach einer Teilheilung aber richtig reden kann. In beiden Therapieversuchen kommt von Jesus kein heilendes Wort; gemeinsam ist ihnen die ironische Absonderung des Patienten von der Menschenmenge - und die Spucke der Verachtung (7,33; 8,23).
Bleibt die Frage, ob dieser Simon, der seinem jüdischen Namen nach doch ein Hörender sein sollte, jemals gelernt hat, auf Jesus zu hören wie auf eine neue Tora (vgl. 9,7). Die Antwort des Mk ist eindeutig (14,37; die Fragenzeichen sind falsch; vgl. https://www.skandaljuenger.de/post/übersetzungsfehler-in-der-bibel-falsche-fragen).
Ketzerisch weitergefragt: Dieser scheinheilige Schüler und Apostat Jesu (14,71) soll Ausgangspunkt für den weltweiten Aposteldienst sein? Seine apostolischen Nachfolger der einzige Maßstab für die Legitimation der Mahlfeier? Was ist mit dem Dienst der Sieben, ganz zu schweigen von den anderen Booten, die auch bei Jesus waren (4,36)?
Oder sind das falsche Fragen?
NB! Angeblich stammt von Seneca auch dieses Dictum: Es wird eine Zeit kommen, da unsere Nachkommen sich wundern werden, dass wir so offenbare Dinge nicht gewusst haben.
Comments