Die Geschichte des Paralysierten (Mk 2,1-12)
Aktualisiert: 13. Apr.
Als Heilung eines Gelähmten wird sie in deutschen Bibel-Editionen überschrieben, früher auch als Heilung eines Gichtbrüchigen. Dabei erzählt die so komplexe wie kuriose Geschichte viel mehr: von einem Begräbnis etwa, von der Sündenvergebung durch den Menschensohn und natürlich vom Konflikt, den sie auslöst.
Nichts erzählt sie jedoch über die wunderhafte Heilung eines Lahmen, wie sie durch den Propheten Jesaja für die Heilszeit verheißen ist (Jes 35,6).
Als Gelähmter wurde er dennoch bezeichnet, wohl deshalb, da seine Muskelschwäche nicht näher definiert ist und er am Ende wieder gehen kann, für alle offensichtlich. Freilich ist nicht seine spezielle Erkrankung das Problem, sondern die theologische und öffentliche Wahrnehmung ihrer Heilung. Wegen der Anspielungen auf Jesaja ist der Paralysierte treffender als ein Erschlaffter zu interpretieren (vgl. Jes 35,3) - und insofern körperlich stark beeinträchtigt.
Wenn er am Ende sein Sofa aufheben kann, ist das Ironie - und ein Ergebnis, eines, das die Menschenmenge sehen kann. Offen bleibt, ob sie zuvor das Wort Jesu (von der Vergebung) hören kann. Auf diesem Auge blind sind jedenfalls die Schreiber, die seine Befugnis zur Sündenvergebung nicht sehen können und - aus ihrer Sicht mit Recht - infrage stellen.
Die Heilszeit Zions ist gekommen, wenn die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden (vgl. Jes 35,5), eben auch die Augen und Ohren des Petros, auf den diese Geschichte mehrfach und an entscheidender Stelle anspielt (2,5; vgl. auch 7,32ff bzw. 8,22ff). Deswegen ist sie auch in Kapharnaum angesiedelt, offenbar im Haus des nicht eigens genannten Simon (Petros; vgl. 1,21).
Wie dem Erschlafften die Sünden vergeben werden, bleibt ebenfalls offen. Ihm wird schließlich nur der ironische Auftrag zuteil, aufzuwachen, sein Ruhemöbel (ein Sofa – anstatt des Kreuzes, vgl. 8,34; 15,21) aufzuheben und nach Hause zu gehen.
Mit den apostolischen Themen von Nachfolge oder Berufung hat diese Geschichte im Unterschied zu der danach nichts zu tun. Vielmehr erzählt sie einmal mehr von der Fragwürdigkeit eines Patienten und den Gegenentwurf zu einem Verkündigungsauftrag. Daher unterbleibt die von Jesus angesprochene Option zum Herumlaufen (vgl. 2,9) oder gar die größtmögliche apostolische Befugnis, Sünden zu erlassen.
Am Ende gehorcht der Geheilte nur teilweise, wenn er weisungsgemäß zwar sein Sofa aufhebt, aber hinausgeht. Auch die Reaktion ist eine Pointe grotesken Missverstehens, nämlich ein angebliches Gotteslob: So haben wir es noch nie gesehen! - Diese Menschenmenge ist außer sich wegen einer Heilung, nicht wegen der Sündenvergebung - und hat damit doch einen Grund, Gott zu loben.
Die nachfolgende Übersetzung versucht, die kuriosen Seiten der Geschichte deutlich werden zu lassen. Sie sollte für sich stehen - und wird dennoch mit kurzen Anmerkungen kommentiert.
Die Geschichte des Paralysierten, 2,1-12
1 Καὶ εἰσελθὼν πάλιν εἰς Καφαρναοὺμ
δι’ ἡμερῶν ἠκούσθη ὅτι ἐν οἴκῳ ἐστίν.
Und als er wieder hineinging nach Kapharnaum,
hörte (1) man tagelang (2), dass er im Haus (3) ist.
2 καὶ συνήχθησαν πολλοὶ ὥστε μηκέτι χωρεῖν
μηδὲ τὰ πρὸς τὴν θύραν,
καὶ ἐλάλει αὐτοῖς τὸν λόγον.
Und es versammelten (4) sich viele,
sodass sie keinen Platz hatten,
nicht einmal zur Tür (5) hin.
Und er sagte ihnen das Wort (6).
3 Καὶ ἔρχονται φέροντες πρὸς αὐτὸν παραλυτικὸν
αἰρόμενον ὑπὸ τεσσάρων.
Und sie kommen und bringen zu ihm einen Erschlafften (7),
aufgehoben (8) von vieren.
4 καὶ μὴ δυνάμενοι προσενέγκαι αὐτῷ διὰ τὸν ὄχλον
ἀπεστέγασαν τὴν στέγην ὅπου ἦν,
Und da sie nicht imstande waren, ihn wegen der Menge zu ihm zu bringen,
deckten sie das Dach ab, wo er war.
καὶ ἐξορύξαντες χαλῶσιν τὸν κράβαττον
ὅπου ὁ παραλυτικὸς κατέκειτο.
Und nachdem sie es aufgegraben (9) hatten,
lassen sie das Sofa (10) hinab,
wo der Erschlaffte darniederlag.
5 καὶ ἰδὼν ὁ Ἰησοῦς τὴν πίστιν αὐτῶν λέγει τῷ παραλυτικῷ·
τέκνον, ἀφίενταί σου αἱ ἁμαρτίαι.
Und als Jesus ihr Vertrauen sah (11),
spricht er zu dem Erschlafften:
Kind, erlassen werden (12) dir die Sünden.
6 Ἦσαν δέ τινες τῶν γραμματέων ἐκεῖ καθήμενοι καὶ διαλογιζόμενοι ἐν ταῖς καρδίαις αὐτῶν·
Es gab aber einige der Schreiber (13),
die saßen dort und überlegten in ihren Herzen:
7 τί οὗτος οὕτως λαλεῖ; βλασφημεῖ· τίς δύναται ἀφιέναι ἁμαρτίας εἰ μὴ εἷς ὁ θεός;
Warum redet dieser so? Lästert er? (14)
Wer ist imstande, Sünden zu erlassen – außer einem, Gott?
8 καὶ εὐθὺς ἐπιγνοὺς ὁ Ἰησοῦς τῷ πνεύματι αὐτοῦ ὅτι οὕτως διαλογίζονται ἐν ἑαυτοῖς λέγει αὐτοῖς·
τί ταῦτα διαλογίζεσθε ἐν ταῖς καρδίαις ὑμῶν;
Und da Jesus sogleich erkannte mit seinem Geist,
dass sie untereinander so überlegen, spricht er zu ihnen:
Warum überlegt ihr dies in euren Herzen?
9 τί ἐστιν εὐκοπώτερον, εἰπεῖν τῷ παραλυτικῷ· ἀφίενταί σου αἱ ἁμαρτίαι,
ἢ εἰπεῖν· ἔγειρε [καὶ ἆρον τὸν κράβαττόν σου] καὶ περιπάτει;
Was ist einfacher? Zu dem Erschlafften zu sagen:
Erlassen werden dir die Sünden, oder zu sagen:
Wach auf (15) und lauf herum (16)?
10 ἵνα δὲ εἰδῆτε ὅτι ἐξουσίαν ἔχει ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ἐπὶ τῆς γῆς ἀφιέναι ἁμαρτίας –
λέγει τῷ παραλυτικῷ·
10 Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Befugnis hat,
auf der Erde Sünden zu erlassen (17),
spricht er zu dem Erschlafften (18):
11 σοὶ λέγω, ἔγειρε ἆρον τὸν κράβαττόν σου καὶ ὕπαγε εἰς τὸν οἶκόν σου.
Dir sage ich: Wach auf, heb dein Sofa auf (19) und verschwinde in dein Haus!
12 καὶ ἠγέρθη καὶ εὐθὺς ἄρας τὸν κράβαττον ἐξῆλθεν ἔμπροσθεν πάντων,
ὥστε ἐξίστασθαι πάντας καὶ δοξάζειν τὸν θεὸν λέγοντας ὅτι οὕτως οὐδέποτε εἴδομεν.
Und er wurde wach.
Und sofort hob er das Sofa auf und ging hinaus, vor allen,
sodass alle außer sich gerieten und Gott ehrten und sagten:
So (20) haben wir es noch nie gesehen!
Dazu ein paar kurze Anmerkungen:
(1) Wörtlich: Wurde gehört. Diese passivische Formulierung schafft Distanz zum Wort Jesu. – Die beiden Schlüssel-Begriffe Begriffe des Hörens und Sehens stehen im Rahmen der Geschichte.
(2) Wörtlich: während Tagen. Es bezieht sich nicht auf den Zeitpunkt des Hineinkommens, sondern auf eine längere Zeit davor, auf die scheinbar bedeutungslose Anwesenheit Jesu im Haus.
(3) Im Haus des Simon (Petros; vgl. 1,29). Die dort zusätzlich erwähnten Namen Andreas, Jakobos und Johannes sind eine nach-mk Glosse.
(4) Dieses Verbum steht für eine Gemeinde von Judäochristen, die nicht (mehr) in der Synagoge zusammenkommt (vgl. 1,21), sondern im Haus (des Simon; s.o. 3.).
(5) Die Tür ist eine Anspielung auf Simon (Petros), die schon zum zweiten Mal mit dem Motiv der Menschenmenge verknüpft ist (vgl. 1,32). Sie spielt auf den Menschenfänger Petros an, der Jesus als Menschen nicht erkennen kann, da er schläft (vgl. 14,37). Der Erfolg des Menschenfischers (vgl. 1,17) löst zunehmende Bedrängnis aus bis hin zur deutlichen Abwehr durch Jesus (vgl. 3,9), - und auch genuin judäochristliche Probleme (5,27ff).
(6) Das Wort war schon zuvor verkündet worden, unautorisiert, nämlich von einem Aussätzigen, den Jesus erst gereinigt, dann aber hinausgeworfen hatte (vgl. 1,45).
(7) Diese Deutung seines Leidens beruht – gegen die in Theologie und Medizin übliche Terminologie – auf der Heilsvision des Jesaja (vgl. Jes 35,3).
(8) Der Begriff des Aufhebens reicht weit über das bloße Tragen hinaus. So deutet er zunächst eine Bestattung an und weist schließlich auf die ironische Pointe voraus, auf das Aufheben eines Ruhemöbels.
(9) Auch der Begriff des Aufgrabens lässt sich vom Bild der Bestattung her verstehen.
(10) Dabei handelt es sich weniger um ein Bett, eine Pritsche oder eine Essliege (Kline, vgl. Mt 9,2; Lk 5,19), als vielmehr um ein Ruhemöbel, das ein Ausruhen des Erschlafften ermöglicht, vergleichbar einem Sofa oder einer Couch.
(11) Hier ist eine weitere der vielen Pointen versteckt. Jesus reagiert auf den scheinbar unsichtbaren Glauben derer, die den Erschlafften zu ihm hinabgelassen haben. Doch ihr Vertrauen ist durchaus zu erkennen, nämlich daran, dass sie den Weg nicht durch die Tür, sondern durch das Dach genommen und den Erschlafften so (an Petros, der Tür, vorbei) zu Jesus gebracht haben. Das ist Ironie: Die Menschenmenge des Petros verhindert den Kontakt; zu Jesus gelangt man nur ohne ihn.
(12) Die Verbform im Präsens deutet nicht auf eine bereits erfolgte Sündenvergebung hin. Vielmehr bleibt offen, ob Jesus derjenige ist, der ihm die Sünden erlässt, sofern er überhaupt etwas für ihn unternimmt. Die Frage ist also nicht, was Jesus tun kann, sondern was Er sieht, sagt und tut.
(13) Die Schreiber (vulgo Schriftgelehrten) sind bei Mk die einzige von Jesus offen kritisierte Gruppe (vgl. 12,38), die auch dadurch auffällt, dass Petros sich unmittelbar an sie dranhängt, Jesus aber nur von ferne nachfolgt (vgl. 14,53f).
(14) Im Rahmen einer dreifachen Fragenkette lässt der Vorwurf der Gotteslästerung sich ebenfalls als Frage verstehen. Meist wird er als Antwort übersetzt auf die erste Frage der Schreiber (Er lästert).
(15) Der Weck-Ruf zum Aufstehen ist hier wörtlich genommen, da Mk zwischen den beiden Formen des Aufgewecktwerdens bzw. des Aufstehens unterscheidet. Beim Aufwecken schwingt das Thema des Sündenschlafs bzw. der Sündenvergebung mit.
(16) Dieser in allen Bibelausgaben aus drei Imperativen bestehende Satz hatte bei Mk nur zwei; vom Aufheben des Ruhemöbels war ursprünglich keine Rede. Die nach-mk Einfügung sorgt zwar für einen parallelen Wortlaut, zerstört aber die Pointe in 2,11.
(17) Diese Wortstellung ist ursprünglich; entscheidend ist, dass Jesus auf der Erde Sünden vergibt. - Die Anerkennung der Befugnis dazu setzt Wissen und die Bereitschaft zum Hören voraus, nicht die Augen zum Sehen.
(18) Diese Verbform (spricht er) stört absichtlich, da sie nicht zur direkten Rede Jesu passt. Dieser Blick auf den Menschensohn gibt Jesus die Möglichkeit, in der dritten Person von sich selbst zu sprechen. Das verdoppelte Verb danach (in der 1. Person Dir sage ich) markiert die Wende.
(19) Die Pointe: Er soll nicht etwa Sünden erlassen, geschweige denn sein Kreuz tragen, sondern nur sein Sofa, und deswegen auch nach Hause gehen. Sein Herausgehen aber lässt vermuten, dass er sich daran nicht halten wird.
(20) Die Entsprechung zu V. 7 (warum redet dieser so / so haben wir es noch nie gesehen) lässt sich angesichts der doppelten Verneinung kaum anders wiedergeben; nicht die Zeitangabe trägt hier die Betonung.
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