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Die Geschichte des Paralysierten (Mk 2,1-12)

Aktualisiert: 12. März


Als Heilung eines Gelähmten wird sie in deutschen Bibel-Editionen überschrieben, früher auch als Heilung eines Gichtbrüchigen. Dabei erzählt die so komplexe wie kuriose Geschichte viel mehr: von einem Begräbnis etwa, von der Sündenvergebung durch den Menschensohn und natürlich vom Konflikt, den sie auslöst.


Nichts erzählt sie jedoch über die wunderhafte Heilung eines Lahmen, wie sie durch den Propheten Jesaja für die Heilszeit verheißen ist (Jes 35,6).


Als Gelähmter wurde er dennoch bezeichnet, wohl deshalb, da seine Muskelschwäche nicht näher definiert ist und er am Ende wieder gehen kann, für alle offensichtlich. Freilich ist nicht seine spezielle Erkrankung das Problem, sondern die theologische und öffentliche Wahrnehmung ihrer Heilung. Wegen der Anspielungen auf Jesaja ist der Paralysierte treffender als ein Erschlaffter zu interpretieren (vgl. Jes 35,3) - und nur insofern körperlich beeinträchtigt.


Wenn er am Ende sein Sofa aufheben kann, ist das nur ein Ergebnis, eines, das die Menschenmenge sehen kann. Offen bleibt, ob sie zuvor das Wort Jesu (von der Vergebung) hören kann. Auf diesem Auge blind sind jedenfalls die Schreiber, die seine Befugnis zur Sündenvergebung nicht sehen können und - aus ihrer Sicht mit Recht - infrage stellen.

Die Heilszeit Zions ist da, wenn die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden (vgl. Jes 35,5), eben auch die Augen und Ohren des Petros, auf den diese Geschichte mehrfach und an entscheidender Stelle anspielt (2,5; vgl. auch 7,32ff bzw. 8,22ff). Deswegen ist sie auch in Kapharnaum angesiedelt, offenbar im Haus des nicht eigens genannten Simon (vgl. 1,21).


Wie dem Erschlafften die Sünden vergeben werden, bleibt ebenfalls offen. Ihm wird schließlich nur der lächerliche Auftrag zuteil, aufzuwachen, sein Ruhemöbel (ein Sofa – anstelle des Kreuzes, vgl. 8,34; 15,21) aufzuheben und nach Hause zu gehen.


Mit den Themen von Nachfolge oder Berufung hat diese Geschichte im Unterschied zu der danach nichts zu tun. Vielmehr erzählt sie einmal mehr von der Fragwürdigkeit eines Patienten und einen weiteren Gegenentwurf zu einem offiziellen Verkündigungsauftrag. Daher unterbleibt der in die Diskussion eingebrachte Befehl Jesu zum Herumgehen (vgl. 2,9) oder gar die apostolische Befugnis, Sünden aufzuheben.


Am Ende gehorcht der Geheilte nur teilweise, wenn er weisungsgemäß zwar sein Sofa aufhebt, aber hinausgeht. Die Reaktion darauf ist eine Pointe grotesken Missverstehens, nämlich ein angebliches Gotteslob: Sowas haben wir noch nie gesehen!


Die nachfolgende Übersetzung versucht, die kuriosen Seiten der Geschichte deutlich werden zu lassen. Sie sollte für sich stehen können - und wird dennoch mit kurzen Anmerkungen kommentiert.


Die Geschichte des Paralysierten, 2,1-12

1 Καὶ εἰσελθὼν πάλιν εἰς Καφαρναοὺμ

δι’ ἡμερῶν ἠκούσθη ὅτι ἐν οἴκῳ ἐστίν.

Und als er wieder hineinging nach Kapharnaum,

hörte[1] man tagelang[2], dass er im Haus[3] ist.


2 καὶ συνήχθησαν πολλοὶ ὥστε μηκέτι χωρεῖν

μηδὲ τὰ πρὸς τὴν θύραν,

καὶ ἐλάλει αὐτοῖς τὸν λόγον.

Und es versammelten[4] sich viele,

sodass sie keinen Platz hatten,

nicht einmal zur Tür[5] hin.

Und er sagte ihnen das Wort[6].


3 Καὶ ἔρχονται φέροντες πρὸς αὐτὸν παραλυτικὸν

αἰρόμενον ὑπὸ τεσσάρων.

Und sie kommen und bringen zu ihm einen Erschlafften[7],

aufgehoben[8] von vieren.


4 καὶ μὴ δυνάμενοι προσενέγκαι αὐτῷ διὰ τὸν ὄχλον

ἀπεστέγασαν τὴν στέγην ὅπου ἦν,

Und da sie es nicht schafften, (ihn) ihm herzubringen wegen der Menge,

deckten sie das Dach ab, wo er war.


καὶ ἐξορύξαντες χαλῶσιν τὸν κράβαττον

ὅπου ὁ παραλυτικὸς κατέκειτο.

Und nachdem sie es aufgegraben[9] hatten,

lassen sie das Sofa[10] hinab,

wo der Erschlaffte darniederlag.


5 καὶ ἰδὼν ὁ Ἰησοῦς τὴν πίστιν αὐτῶν λέγει τῷ παραλυτικῷ·

τέκνον, ἀφίενταί σου αἱ ἁμαρτίαι. 

Und als Jesus ihr Vertrauen sah[11],

spricht er zu dem Erschlafften:

Kind, erlassen werden[12] dir die Sünden.


6 Ἦσαν δέ τινες τῶν γραμματέων ἐκεῖ καθήμενοι καὶ διαλογιζόμενοι ἐν ταῖς καρδίαις αὐτῶν·

Es gab aber einige der Schreiber[13],

die dort saßen und in ihren Herzen überlegten:


7 τί οὗτος οὕτως λαλεῖ; βλασφημεῖ· τίς δύναται ἀφιέναι ἁμαρτίας εἰ μὴ εἷς ὁ θεός;

Warum redet dieser sowas? Lästert er?[14]

Wer schafft es, Sünden zu erlassen – außer einem, Gott?


8 καὶ εὐθὺς ἐπιγνοὺς ὁ Ἰησοῦς τῷ πνεύματι αὐτοῦ ὅτι οὕτως διαλογίζονται ἐν ἑαυτοῖς λέγει αὐτοῖς·

τί ταῦτα διαλογίζεσθε ἐν ταῖς καρδίαις ὑμῶν;

Und da Jesus sogleich erkannte mit seinem Geist,

dass sie untereinander so überlegen, spricht er zu ihnen:

Warum überlegt ihr dies in euren Herzen?


9 τί ἐστιν εὐκοπώτερον, εἰπεῖν τῷ παραλυτικῷ· ἀφίενταί σου αἱ ἁμαρτίαι,

ἢ εἰπεῖν· ἔγειρε [καὶ ἆρον τὸν κράβαττόν σου] καὶ περιπάτει;

Was ist einfacher? Zu dem Erschlafften zu sagen:

Erlassen werden dir die Sünden, oder zu sagen:

Erwache[15] und gehe umher[16]?


10 ἵνα δὲ εἰδῆτε ὅτι ἐξουσίαν ἔχει ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ἐπὶ τῆς γῆς ἀφιέναι ἁμαρτίας – λέγει τῷ παραλυτικῷ·

10 Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Befugnis hat,

auf der Erde Sünden zu erlassen[17],

spricht er zu dem Erschlafften[18]:


11 [σοὶ λέγω,] ἔγειρε ἆρον τὸν κράβαττόν σου καὶ ὕπαγε εἰς τὸν οἶκόν σου.

Erwache, hebe dein Sofa auf[19] und geh in dein Haus!


12 καὶ ἠγέρθη καὶ εὐθὺς ἄρας τὸν κράβαττον ἐξῆλθεν ἔμπροσθεν πάντων,

ὥστε ἐξίστασθαι πάντας καὶ δοξάζειν τὸν θεὸν λέγοντας ὅτι οὕτως οὐδέποτε εἴδομεν.

Und er wurde aufgeweckt.

Und sofort hob er das Sofa auf und ging hinaus, vor allen,

sodass alle außer sich gerieten und Gott ehrten und sagten:

Sowas[20] haben wir noch nie gesehen!

[1] Wörtlich: Wurde gehört. Diese passivische Formulierung schafft Distanz zum Wort Jesu. – Die beiden Verben des Hörens und Sehens stehen im Rahmen der Geschichte.


[2] Wörtlich: während Tagen. Es bezieht sich nicht auf den Zeitpunkt des Hineinkommens, sondern auf die längere, scheinbar bedeutungslose Anwesenheit Jesu im Haus.

[3] Im Haus des Simon (Petros; vgl. 1,29). Die dort zusätzlich erwähnten Namen Andreas, Jakobos und Johannes sind eine nach-mk Glosse.

[4] Dieses Verbum steht für eine Gemeinde von Judäochristen, die nicht mehr in der Synagoge (vgl. 1,21), sondern im Haus (des Simon) zusammenkommt (s.o.).

[5] Die Tür ist eine Anspielung auf Simon (Petros), die als Symbol schon zum zweiten Mal mit dem Motiv der Menschenmengen verknüpft ist (vgl. 1,32). Sie spielt auf Petros an, der als Türhüter versagt, da er nicht eine einzige Stunde wachen kann (vgl. 14,37). Ebenso lässt die Menschenmenge sich als Werk des Menschenfischers deuten (vgl. 1,17), eines, das zunehmende Bedrängnisse auslöst sowie eine deutliche Abwehrreaktion Jesu (vgl. 3,9).

[6] Das Wort war schon zuvor verkündet worden, unautorisiert und von einem Aussätzigen, den Jesus erst gereinigt, dann aber hinausgeworfen hatte (vgl. 1,45).

[7] Diese Deutung seines Leidens beruht – gegen die in Theologie und Medizin übliche Terminologie – auf der Heilsvision des Jesaja (vgl. Jes 35,3).

[8] Der Begriff des Aufhebens reicht über das bloße Tragen hinaus. So deutet er zunächst das Bild einer Bestattung an und weist schließlich auf die ironische Pointe voraus, auf das Aufheben eines Möbelstücks.

[9] Auch der Begriff des Aufgrabens lässt sich vom Bild der Bestattung her verstehen.

[10] Dabei handelt es sich weniger um ein Bett, eine Trage oder eine Bahre, als vielmehr um ein Möbelstück zum Ausruhen für den Erschlafften.

[11] Hier ist die entscheidende Pointe versteckt. Jesus reagiert auf das scheinbar nur für ihn sichtbare Vertrauen derer, die den Erschlafften zu ihm hinabgelassen haben. Doch ihr Vertrauen ist allseits zu erkennen daran, dass sie nicht den Weg durch die Tür, sondern durch das Dach genommen, dass sie also den Erschlafften an Petros vorbei zu Jesus gebracht haben. Die vielen Menschen des Petros verhindern den Kontakt, zu Jesus kommt man nur ohne ihn.

[12] Die Verbform im Präsens deutet nicht auf eine bereits erfolgte Sündenvergebung hin. Vielmehr bleibt offen, ob Jesus ihm die Sünden erlässt, sofern er überhaupt etwas für ihn unternimmt. Die Frage ist also nicht, was Jesus tun kann, sondern was er sieht - und tut.

[13] Die Schreiber (vulgo Schriftgelehrten) sind die einzige vom Jesus des Mk offen kritisierte Gruppe (vgl. 12,38), wohl auch deshalb, weil Petros sich an sie dranhängt (vgl. 14,53f).

[14] Das Verbum der Gotteslästerei wird meist als die eigene Antwort auf die erste Frage der Schreiber übersetzt. Im Rahmen einer Fragenkette lässt es sich ebenfalls als Frage verstehen.

[15] Der Ruf zum Aufstehen ist hier wörtlich genommen, da Mk zwischen den beiden Formen des Aufgeweckt-werdens bzw. des Aufstehens unterscheidet. Bei der Auferweckung schwingt das Thema der Sündenvergebung mit.

[16] Dieser in allen Bibelausgaben aus drei Aufträgen bestehende Satz hatte bei Mk nur zwei Teile; vom Ruhemöbel war ursprünglich noch keine Rede. Die nach-mk Einfügung sorgt zwar für einen parallelen Wortlaut (vgl. 2,11), zerstört aber die spätere Pointe.

[17] Diese Wortstellung ist ursprünglich; entscheidend ist, dass Jesus auf der Erde Sünden vergibt. - Die Anerkennung der Befugnis dazu setzt Wissen und insofern die Bereitschaft zum Hören voraus, nicht die zum Sehen.

[18] Diese Verbform (spricht er) passt nicht zur direkten Rede; sie behält bewusst den Blick auf den Menschensohn bei, der Jesus die Möglichkeit gibt, in der dritten Person von sich selbst zu sprechen. Das störend verdoppelte Verb danach (in der 1. Person: ich spreche – bzw. ich sage dir) ist möglicherweise ein Korrekturversuch, in Angleichung etwa an 5,41.

[19] Die Pointe: Er darf nicht Sünden aufheben, sondern nur sein Sofa, und deswegen auch nicht herumgehen. Sein Herausgehen lässt vermuten, dass er sich nicht daran halten wird.

[20] Die Entsprechung zu V. 7 (warum redet dieser sowas / sowas haben wir noch nie gesehen) lässt sich angesichts der doppelten Verneinung kaum anders wiedergeben; Sie und nicht die Zeitangabe trägt die Betonung.

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