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Die Geschichte der sog. Sturmstillung (Mk 4,35-5,1)

martinzoebeley

Aktualisiert: 15. Juli 2024


Der Name der Geschichte ist bezeichnend für ein Problem ihrer Deutungen. Seit je wurde sie auf den Sturm hin interpretiert - als ein Naturwunder, auch als ein Rettungswunder, dank des einen schützenden Passagiers an Bord. Das Motiv der Rettung wiederum ließ sich auf die in Bedrängnis geratene Kirche beziehen. Den fragwürdigen Begriff des Wunders thematisiert demnächst ein separater Beitrag.


Die Forschung der letzten Jahrzehnte brachte eine Reihe weiterer Interpretationen hervor. Hinter dem Auftreten Jesu sei die Geschichte einer Epiphanie erkennbar oder die eines Exorzismus. Über einige Einzelzüge hinaus treffen solche Auslegungen wenig; sie bleiben unzureichend, solange sie den Fokus nur auf Jesus richten und damit jene Perspektive einnehmen, die für die Umdeutung des Matthäus kennzeichnend ist (vgl. Mt 8,18ff).


Abwegig sind die Versuche, der Geschichte einen historischen Kern anzudichten. Ob Jesus mit seinen Schülern jemals Bootsfahrten auf dem See Genezareth unternommen hat, ist ebenso unerheblich wie die angebliche Gefahr dort plötzlich aufkommender Sturmwinde.

Als Erzähl-Literatur braucht sie keine realen Hintergründe. Mit ihrem literarischen Anspruch, den bewussten Kontrasten und Brüchen sowie einer beträchtlichen Anzahl polyvalenter, auch satirischer Andeutungen ist sie vor allem eines: kunstvolle Theologie.


Allzu oft kommt das Niveau der theologischen Reflexion nicht über das eines Kindergottesdienstes hinaus, wo die Geschichte in kindgerecht reduzierter Form noch immer beliebt ist. Sie hat jedoch einen ganz eigenen Fokus, den sie bereits in ihrer sonderbaren Exposition andeutet und in einer skurrilen Frage abschließend noch einmal aufgreift.


Wer ist denn der? – Auf diese scheinbar christologische, situativ aber ahnungslose Frage gehen die allermeisten Interpretationen ausführlich ein. Doch die Frage geht weiter: Wer ist denn der, dass auch der Wind und das Meer ihm gehorcht (sic!). Die auffällig störende Singularform (gehorcht anstelle von gehorchen) wird von Matthäus (Mt 8,27) und Lukas (Lk 8,25) entsprechend korrigiert.


Diese Störung ist im Ablauf des Textes nur eine von mehreren; sie ist eine für Mk typische Sollbruchstelle, hier vor allem wegen der Situations-Komik. Skurril ist die Fallhöhe, da die machtvolle Demonstration der Autorität Jesu in eine so ahnungslose Frage mündet. Einmal mehr wird mit satirischer Schärfe das sog. Jüngerunverständnis bloßgestellt, genauer: die Unfähigkeit der Schüler, die Vollmacht Jesu zu erkennen und angemessenen darauf zu reagieren.


Passend ist die Frage insofern, als sie das eigentliche Problem der Geschichte benennt: den permanenten Ungehorsam der Schüler. Insofern ist es ein Witz, wenn ausgerechnet sie den besonderen Gehorsam konstatieren (vgl. 1,27), die ihn immer wieder vermissen lassen.


Das zeigt sich zuvor schon am Motiv des Bootes. Im Vorfeld fordert Jesus von ihnen ein kleines Boot (3,9). Doch die Forderung geht ins Leere; den gewünschten Schutz vor den Menschenmengen bieten sie ihm nicht an. Gehorsam sieht anders aus.


Eine erste Rede hält Jesus dann von einem Schiff aus (4,1), das er dafür unvermittelt zur Verfügung hat. Dabei sitzt er auf dem Meer, die von ihm angesprochenen Menschen sind auf der Erde. Ob das Schiff zum Überqueren des Meeres oder zum Fischen geeignet ist, bleibt offen. Hier dient es allein der Lehre, bei der Jesus abgesetzt ist von den Menschenmassen, die ihrerseits als großer Erfolg der Menschenfischer gelten können.


Das Schiff nimmt dabei in etwa die Funktion einer Kanzel ein. So gesehen mag es an die Rednertribüne auf dem Forum Romanum erinnern, an die sog. Rostra. Ihren Namen verdankt sie den Schiffschnäbeln vom Bug großer Schiffe. Darauf spielt möglicherweise die kryptische Ortsangabe in 4,38 an. Wenn Jesus ausdrücklich hinten im Heck schläft, kümmern ihn die Themen der Rostra nicht.


Symbolische Anspielungen sind schon vor der langen Rede nicht zu übersehen. Jesus sitzt (d.h., er lehrt) auf dem Meer, die Menschenmassen auf der Erde sind ihm zugewandt. Dieses Bild eines Gegenübers wird zu Beginn der Sturmstillung aufgenommen und zum universalen Jenseitigen vergrößert wird (4,35); es entspricht einer Metapher für das anzusteuernde Ziel des Lebens. Vom konkreten jenseitigen (Ufer) des Meeres ist erst am Ende die Rede (5,1).


Die Rätselrede wird ausdrücklich als Lehre eingeleitet (4,1ff). Jesus geht anhand rätselhafter Fallbeispiele auf landwirtschaftliche Vorgänge ein, die auf das Getreidewachstum sowie auf den dazu hinderlichen felsigen (Petros, z.B. 4,5.16) bezogen sind. Vom Meer, dem Ort seiner Begegnung mit den ersten Schülern, spricht Jesus nicht, auch nicht von einer Bootsfahrt. Diese beiden Chiffren sind vielmehr Teil der Anspielungen auf die alttestamentliche Geschichte des Jona, der im gleichnamigen Buch zum Propheten wider Willen berufen war.


Beendet wird die Rätselrede schließlich mit der für seine eigenen (idiois, 4,34) Schüler peinlichen Erzählernotiz, dass Jesus ihnen alle Rätsel eigens auflöste. Von sich aus verstehen sie seine Lehre nicht. Werden sie danach etwa seine Taten verstehen? Zumal am Abend (4,35), dem Zeitpunkt unzureichender Erkenntnis? Oder kann die nur verstehen, wer auch die Rede lesen und die Rätsel lösen kann, mitsamt der anschließenden Sturmstillungs-Geschichte?


Der Blick des Erzählers bleibt jedenfalls zu Beginn auf die Schüler gerichtet. Sie sind es, die Jesus selbstherrlich im Schiff mitnehmen (4,36). Die zuvor ebenso selbstherrlich die Menschenmenge entlassen, ohne eine Beauftragung durch Jesus. Matthäus beseitigt das Problem, in dem er es durch einen ausführlicheren Nachfolge-Exkurs ersetzt (Mt 8,18ff).


Vor allem aber scheint die Überquerung per Schiff ihre Idee zu sein. Jesus hatte gesagt: Lasst uns hindurchgehen zum Gegenüberliegenden (4,35). Sie wollen das Meer nicht durchqueren oder verstehen den rätselhaften Satz nicht als Nachfolge-Auftrag. Statt dessen nehmen sie ihn als Aufforderung zu einer ziellosen Überfahrt und bringen erstmals das Schiff als endzeitlich konnotiertes Fortbewegungsmittel zum Einsatz.


Wenn sie selbst das Jenseitige mit dem Schiff erreichen wollen, entspricht das zwar antiken Totenwelt-Mythologien, ignoriert aber die Autorität Jesu, der sie durch das Meer führen will, wie weiland Mose das Volk Israel (Ex 14,16). Gehorsam sieht anders aus.


Als groß wird nicht nur der plötzliche Sturm qualifiziert (4,37), sondern auch und im Kontrast dazu die anschließende Stille (4,39). Groß ist danach wiederum die Furcht der Schüler (4,41). Die etymologische Figur (sie fürchteten sich in großer Furcht) ist ein wörtliches Zitat aus der Geschichte des Jona, wo die Furcht der Besatzung nach ihrer Gotteserkenntnis als Ehrfurcht verstanden und positiv gewertet wird (Jon 1,16).


Jesus aber bezeichnet ihre große Furcht zuvor als Mutlosigkeit (Was seid ihr mutlos? 4,40). Er gibt darauf selbst die Antwort und benennt den Grund dafür: Ihr habt noch kein Vertrauen! Bleibt die Frage, ob sie das jemals haben werden.


Der Verlauf der Geschichte zeigt, warum sie es bisher nicht hatten. In ihrer Bedrängnis wecken sie ihn (4,38) und machen ihm den dreisten Vorwurf: „Es kümmert dich nicht, dass wir zugrunde gehen!“ Dabei haben sie in gewisser Weise Recht. Wer so ruhig schläft, kümmert sich um nichts, kann aber dem Gott Israels vertrauen, der einzig nicht schläft (vgl. Ps 121,4).


Umgekehrt heißt das auch: Wer darauf vertraut, dass Jesus durch das Meer führen und Chaosmächte bändigen wird, braucht selbst in existenziellen Bedrängnissen sich vor nichts zu fürchten. Sie aber haben noch kein Vertrauen, weder in den Hüter Israels, noch in die Vollmacht seines Sohns.


Ein Witz ist freilich, wie die Schüler ihren Vorwurf einleiten (4,38), die Jesus als Lehrer anreden. Unpassender könnte ihre Anrede in dem Moment kaum sein. Damit zeigen sie, dass sie ihn, dem sie als Lehrer nicht nachfolgen, als Retter nicht erkennen können. Von Jesus werden sie auch weiterhin nichts lernen, weil ihr Herz versteinert ist (vgl. 6,52). Die zweite Überfahrt zeigt mit entsprechender Wucht, dass sie bei der ersten nichts gelernt hatten, weil sie blind und taub sind für Jesus.


Das versteinerte Herz der Schüler, das er ihnen im Kontext weiterer Schiffstouren vorhält (6,52; 8,17), ist ein Hinweis auf den Felsbrocken Petros. Er ist der Einzige, den Jesus umgekehrt auf jenen Schlaf ansprechen wird (14,37), der ihm (als Türhüter, vgl. 13,34) ausdrücklich untersagt war. Die Gethsemani-Perikope (14,32ff) ist in wichtigen Details ein Gegenstück zur Geschichte der Sturmstillung.


Immer schon hat in deren Kontext das eigens erwähnte Kopfkissen gestört. Warum Jesus für sein Schläfchen an Bord ein Kopfkissen benötigt, versteht nur, wer es als Anspielung auf Petros erkennt, auf dessen aramäische Namensform Kefa; das Kopfkissen heißt proskephalaion. Matthäus und Lukas lassen es weg, wobei Matthäus in seinem Nachfolge-Exkurs erkennbar darauf anspielt: Der Sohn des Menschen hat nichts, wo er den Kopf hinlege (Mt 8,20). Auch da bleibt der Name des Petros erkennbar (Kopf, gr. kephalē).


In der Exposition des Mk irritiert bereits eine kleine Anmerkung, nämlich die Notiz wie er war. Sie deutet mithilfe eines auffälligen Tempus-Wechsels an, dass die Schüler Jesus mitnehmen (!), wie er war, nämlich als Menschen. Wenn sie ihn nur als (schlafenden) Menschen sehen, nicht aber als (rettenden) Gott, entspricht das der späteren Rüge Jesu, Petros achte nur auf das, was der Menschen, nicht aber, was Gottes sei (8,33).


Kurz vor dieser zentralen Rüge haben sie Jesus wieder an Bord, diesmal nicht, wie er war, sondern als (endzeitlich rettendes) Brot. Doch auch als solches können sie ihn nicht erkennen (8,17). Das löst den Unmut Jesu aus – und seine Kritik an ihrem Unverstand, die in den scharfen Tadel mündet: Ihr versteht noch nicht! (8,21). Bleibt die Frage, ob sie jemals verstehen werden.


Eine kryptische Anmerkung weist noch vor der Sturmstillung darauf hin, dass auch andere Schiffe mit ihm waren (4,36). Dieses scheinbar überflüssige und kaum lösbare Rätsel könnte den exklusiven Anspruch der Schüler abwehren, die Jesus zwar an Bord nehmen, aber ohne Erkenntnis bleiben. Wenn eingangs erwähnt wird, dass auch andere Schiffe mit ihm waren, könnte das deren ekklesiologischen oder eschatologischen Vorteil andeuten.


Auf ein letztes kleines Detail sei hier schließlich aufmerksam gemacht, das oft unerwähnt bleibt. Jesus verpasst dem Meer, das er wie einen eigenständigen Akteur anspricht, einen Maulkorb-Befehl (4,39). Das hatte er in dieser Form schon einmal getan, einem Unreinen Geist gegenüber (1,25). Sein Befehl (Sei still!) meint hier in aller Deutlichkeit: Schnauze! Schon bei dieser Gelegenheit fällt dem erstaunten Publikum der Gehorsam auf, obwohl doch der Unreine Geist erst laut aufschreit, bevor er ausfährt (1,26).


Anders als der Unreine Geist ist das Meer samt dem Sturmwind sofort gehorsam. Alle anderen Akteure aber halten sich nicht oder nur halbherzig an die Schweigegebote, genauer: an die Verkündigungsverbote Jesu. Das entspricht einem für Mk typischen Paradox. Je mächtiger ein Akteur ist, desto eher befolgt er das Wort Jesu. Und das sagt auch etwas aus über ihn, der dem Jesus des Mk auf seine sehr eigene Weise folgt: Petros.


PS.

Ein weiterer Blogbeitrag dazu:



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